Zweiter Brief an meine Freunde

Liebe Freunde,
im vorigen Brief habe ich mich auf die Situation bezogen, in der wir heute zu leben haben, und auf gewisse Tendenzen, die die Ereignisse heute zeigen. Ich habe jenen Brief genutzt, um einige Vorschläge in Frage zu stellen, die von den Verteidigern der Marktwirtschaft verkündet werden, so als ob es sich um unumgängliche Bedingungen für jeglichen sozialen Fortschritt handelte. Ich habe auch die wachsende Verringerung der Solidarität hervorgehoben sowie die hinsichtlich der Bezugspunkte bestehende Krise, die im heutigen Moment offensichtlich wird. Schliesslich skizzierte ich einige positive Merkmale, die man bereits in dem beobachten kann, was ich ‹eine neue Sensibilität, eine neue moralische Haltung und eine neue taktische Bereitschaft dem Leben gegenüber› nannte.
Einige meiner Brieffreunde wiesen mich darauf hin, dass sie mit dem Ton des Briefes nicht einverstanden waren. Denn in ihm waren - wie es ihnen schien - zu viele schwerwiegende Dinge enthalten, um sich mit diesen einen ironischen Umgang zu erlauben. Aber werden wir nicht zu dramatisch! Das Beweissystem, das die Ideologie des Neoliberalismus, der sozialen Marktwirtschaft und der Neuen Weltordnung anführt, ist so haltlos, dass es sich nicht lohnt, deswegen die Stirn in Falten zu legen. Ich möchte damit sagen, dass jene Ideologie schon seit langer Zeit von ihrem Fundament her tot ist und dass schon bald die Krise in der Praxis - d.h. an der Oberfläche - auftauchen wird. Diese Krise wird dann endlich auch von den Leuten wahrgenommen werden, die Bedeutung mit Ausdruck, Inhalt mit Form und Prozess mit Momentaufnahme verwechseln. Auf dieselbe Weise, auf die die Ideologien des Faschismus und des realen Sozialismus schon lange vor ihrer späteren Schlappe in der Praxis gestorben waren, wird das Desaster des heutigen Systems die Schlauköpfe erst im nachhinein überraschen. Hat dies nicht viel Lächerliches an sich? Es ist so, als würde man viele Male einen schlechten Film anschauen. Nach soviel Wiederholung widmen wir uns also der Erforschung der Kulissen, der Schminke der Schauspieler und der Effekte, während neben uns eine Dame gerührt ist von dem, was sie zum ersten Mal sieht und was für sie die Realität selbst ist. So sage ich zu meiner Entlastung, dass ich mich nicht über die enorme Tragödie lustig gemacht habe, die die Herrschaft dieses Systems bedeutet, sondern über dessen ungeheure Ansprüche und sein groteskes Ende. Ein Ende, dem wir bereits bei anderen Gelegenheiten beigewohnt haben.
Ich habe auch Briefe bekommen, in denen eine genauere Definition der Haltungen gefordert wurde, die man gegenüber dem gegenwärtigen Veränderungsprozess einnehmen sollte. Diesbezüglich glaube ich, dass es besser ist, zu versuchen, die Standpunkte zu verstehen, die verschiedene Gruppen und Einzelpersonen einnehmen, bevor man Empfehlungen irgendeiner Art abgibt. Ich werde mich daher darauf beschränken, die verbreitetsten Haltungen darzustellen und meine Meinung zu den Fällen abzugeben, die mir von grösserem Interesse scheinen.

1. Einige Haltungen gegenüber dem gegenwärtigen Veränderungsprozess
Während des langsamen Prozesses der Menschheit haben sich immer mehr Faktoren angesammelt, bis zum heutigen Zeitpunkt, in dem die Geschwindigkeit des technologischen und wirtschaftlichen Wandels nicht mit der des Wandels der sozialen Strukturen und des menschlichen Verhaltens übereinstimmt. Diese Kluft neigt dazu, sich zu vergrössern und fortschreitende Krisen zu erzeugen. Man tritt diesem Problem von verschiedenen Standpunkten aus entgegen. Es gibt jene, die annehmen, dass sich dies von alleine wieder einpendeln wird, und die deshalb empfehlen, nicht den Versuch zu unternehmen, diesem Prozess eine Richtung zu geben, der überdies unmöglich zu lenken sei. Hierbei handelt es sich um eine mechanistisch-optimistische These. Es gibt andere, die annehmen, dass wir auf eine unabänderliche Explosion zusteuern. Das sind die mechanistisch-pessimistischen Leute. Auch tauchen die moralischen Strömungen auf, die danach streben, die Veränderung aufzuhalten und - soweit möglich - zu Quellen zurückzukehren, die neue Kraft geben sollen. Diese verkörpern eine anti-historische Haltung. Aber auch die Zyniker, die Stoiker und die zeitgenössischen Epikuräer beginnen, ihre Stimmen zu erheben. Die einen stellen die Bedeutung und den Sinn jeder Handlung in Frage; die anderen trotzen standhaft den Tatsachen, auch wenn alles den Bach hinuntergeht; die dritten schliesslich versuchen, aus der Situation Nutzen zu ziehen, und denken einfach an ihr hypothetisches Wohlergehen, das sie höchstens noch auf ihre Kinder ausdehnen. Wie in den Schlussphasen vergangener Zivilisationen nehmen viele Leute Haltungen ein, die auf eine individuelle Errettung abzielen, wobei sie davon ausgehen, dass jede gemeinsame Zielsetzung sinnlos sei und keine Aussicht auf Erfolg habe. In jedem Fall wird die Gemeinschaft nur noch in Funktion der persönlichen Interessen gesehen. Deshalb müssen die politischen, die kulturellen und die Unternehmensführer ihr Erscheinungsbild manipulieren und verbessern, um glaubhaft zu wirken und andere glauben zu machen, dass sie im Auftrag der Gemeinschaft handeln. Selbstverständlich bringt eine solche Beschäftigung auch Ärger mit sich, da die ganze Welt diesen Trick kennt und kein Mensch mehr einem anderen glaubt. Die althergebrachten religiösen, patriotischen, kulturellen, politischen oder gewerkschaftlichen Werte bleiben dem Geld unterworfen. In diesen Bereichen wird die Solidarität und deswegen auch die kollektive Opposition gegen dieses Schema hinweggefegt, während das soziale Geflecht sich immer weiter auflöst. Bald werden wir in eine neue Etappe eintreten, in der der Individualismus auf Leben und Tod überwunden sein wird... aber das ist ein Thema für später. Mit unseren Prägungslandschaften, die auf unseren Schultern lasten, und unseren in Krise befindlichen Glaubensgewissheiten sind wir noch nicht in der Lage, einzusehen, dass sich dieser neue historische Moment nähert. Ob wir nun eine kleine Parzelle der Macht für uns in Anspruch nehmen oder vollständig von der Macht anderer abhängig sind heutzutage sind wir alle vom Individualismus betroffen, bei dem offensichtlich derjenige den Vorteil davonträgt, der besser in das System eingefügt ist.

2. Der Individualismus, die soziale Zersplitterung und die Konzentration der Macht bei den Minderheiten
Der Individualismus führt jedoch notwendigerweise zum Kampf um die Vorherrschaft des Stärkeren und zur Suche nach Erfolg um jeden Preis. Diese Haltung begann bei einigen wenigen, die unter sich bestimmte Spielregeln respektierten, die aber immer auf dem Gehorsam der vielen aufbauten. Jedenfalls wird sich diese Etappe erschöpfen und in ein ‹Jeder gegen jeden› münden. Denn früher oder später wird die Macht zugunsten des Stärkeren aus dem Gleichgewicht geraten, während der Rest untereinander oder bei anderen Gruppierungen Unterstützung suchen wird, um schliesslich jenes brüchige System auseinanderzunehmen. Aber die Minderheiten haben sich im Lauf der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung immer weiter verändert und ihre Methoden so perfektioniert, dass an den Orten, an denen Überfluss herrscht, die grossen Mehrheiten ihre Unzufriedenheit in Richtung zweitrangiger Aspekte ihrer Lebenssituation verlagern. Und es deutet sich an, dass sich trotz des global wachsenden Lebensstandards die übergangenen Massen damit zufriedengeben werden, auf eine bessere Situation in der Zukunft zu hoffen. Denn es scheint, dass sie schon nicht mehr das System in seiner Gesamtheit in Frage stellen, sondern nur in bezug auf bestimmte dringliche Aspekte. All dies zeigt einen bedeutenden Umschwung im sozialen Verhalten. Wenn dies so ist, wird dadurch der aktive Einsatz für eine Veränderung fortschreitend beeinträchtigt, und die althergebrachten politischen und sozialen Kräfte werden ohne Vorschläge zurückbleiben. Die Zersplitterung der Gruppen und der zwischenmenschlichen Verbindungen wird um sich greifen, und die individuelle Isolation wird durch die Strukturen im Produktionsbereich und durch ein kollektives Freizeitangebot, die in ein und derselben Richtung zusammenlaufen, halbwegs kompensiert. In dieser paradoxen Welt wird schliesslich jegliche Zentralisierung und der Bürokratismus weggefegt werden, wobei die alten Führungs- und Entscheidungsstrukturen auseinanderbrechen. Aber die erwähnte Lockerung, Dezentralisierung und Liberalisierung der Märkte und der Tätigkeiten wird das geeignetste Aktionsfeld sein, in dem eine in noch keiner vorangegangenen Epoche dagewesene Konzentration florieren kann, da die Absorption des internationalen Finanzkapitals in die Hände einer immer mächtigeren Bank weiterhin zunehmen wird. Ein ähnliches Paradoxon wird die politische Klasse erleiden, indem sie die neuen Werte ausrufen muss, die den Staat seine Macht verlieren lassen, wodurch ihre Hauptrolle immer mehr beeinträchtigt wird. Es kommt nicht von ungefähr, dass schon seit einiger Zeit Wörter wie ‹Regierung› immer mehr durch andere wie ‹Verwaltung› ersetzt werden und dadurch der ‹Öffentlichkeit› (und nicht mehr den ‹Völkern›) zu verstehen gegeben wird, dass ein Land ein Unternehmen ist.
Andererseits können - so lange, bis sich eine weltweite Imperialmacht festigt - regionale Konflikte entstehen, so wie es bisher zwischen einzelnen Ländern geschah. Solche Konfrontationen könnten im Wirtschaftsbereich auftreten oder sich in beschränkten Gebieten auch auf den Kriegsschauplatz verlagern. Als Folge davon können inkohärente und massive soziale Unruhen auftreten. So könnten ganze Regierungen gestürzt werden und schliesslich Länder und Zonen auseinanderbrechen. Aber all dies wird in keinster Weise den Prozess der Konzentration beeinträchtigen, auf den dieser historische Moment hinzusteuern scheint. Lokale Abgrenzungen, Kämpfe zwischen ethnischen Gruppen, Auswanderungswellen und anhaltende Krisen werden nicht das allgemeine Szenarium der Machtkonzentration verändern. Und wenn die Rezession und die Arbeitslosigkeit auch die Bevölkerungen der reichen Länder trifft, ist die Etappe des liberalen ‹Ausverkaufs› schon vorbei und es werden die Politiken der Kontrolle, des Zwangs und des Notstands nach bestem imperialen Stil entstehen... Wer könnte dann noch von einer freien Marktwirtschaft sprechen, und welche Bedeutung hätte es dann noch, weiterhin Haltungen einzunehmen, die auf dem Individualismus, auf Leben und Tod gründen?
Aber ich sollte noch auf andere Fragen antworten, die an mich herangetragen wurden und die sich auf die Charakterisierung der aktuellen Krise und ihrer Tendenzen beziehen.

3. Kennzeichen der Krise
Wir werden auf die Krise des Nationalstaates, auf die Krise der Regionalisierung und weltweiten Verflechtung sowie auf die Krise der Gesellschaft, der Gruppe und des Individuums eingehen.
Im Kontext eines Prozesses der wachsenden weltweiten Verflechtung beschleunigt sich der Informationsfluss, und der Personen- und Güteraustausch nimmt zu. Die im Wachsen begriffene Technologie und die ebenfalls zunehmende Wirtschaftsmacht konzentrieren sich in immer bedeutender werdenden Konzernen.
Eben dieses Phänomen der Beschleunigung des Austausches prallt mit den Beschränkungen und der Verlangsamung, die von alten Strukturen wie dem Nationalstaat auferlegt werden, zusammen. Das Ergebnis davon ist, dass die nationalen Grenzen innerhalb einer Region zum Verschwinden neigen. Dies führt dazu, dass sich die Gesetzgebung der Länder angleichen muss, und zwar nicht nur im Bereich der Zölle und der Personenkontrollen, sondern auch, was die gegenseitige Anpassung ihrer Produktionssysteme angeht. Das Arbeitswesen und die soziale Sicherheit folgen derselben Richtung. Fortlaufende Übereinkünfte zwischen diesen Ländern zeigen, dass ein gemeinsames Parlament, eine gemeinsame Rechtsprechung und Exekutive eine höhere Effizienz und Geschwindigkeit in der Führung dieser Region gewährleisten. Die ursprüngliche nationale Währung wird immer mehr einer Art von regionaler Tauscheinrichtung weichen, durch die die Verluste und Verzögerungen bei jeder Umtauschoperation vermieden werden.
Die Krise des Nationalstaates ist eine Tatsache, die man nicht nur in den Ländern beobachten kann, die danach streben, sich in einen regionalen Markt einzubinden, sondern auch in den Ländern, deren Wirtschaft sich in einem sehr schlechten Zustand befindet und eine auffallende Stagnation aufweist. Allerorts erheben sich Stimmen gegen die versteiften Bürokratien, und man fordert eine Reform dieser Schemata. Dort, wo sich ein Land erst kürzlich als Ergebnis von Aufteilungen und Annexionen oder als künstliche Föderation gebildet hat, leben alte Grollgefühle und lokale, ethnische oder religiöse Konflikte wieder auf. Der traditionelle Staat muss handeln angesichts dieser auseinanderstrebenden Situation und inmitten wachsender wirtschaftlicher Schwierigkeiten, die seine Effizienz und Legitimität in Frage stellen. Phänomene dieser Art wachsen tendenziell in Mitteleuropa, im Osten und auf dem Balkan. Diese Schwierigkeiten verstärken sich auch im Nahen und Fernen Osten und in Vorderasien. In einigen künstlich voneinander abgetrennten Staaten Afrikas kann man dieselben Phänomene in ihren Anfängen beobachten. Dieser Zerfall wird begleitet von beginnenden Völkerwanderungen in Richtung der Grenzen, die das Gleichgewicht einer ganzen Zone gefährden. Ein in China auftretendes genügend starkes Ungleichgewicht würde genügen, damit mehr als eine Region direkt von diesem Phänomen betroffen wäre, betrachtet man die Instabilität der ehemaligen Sowjetunion und der kontinentalasiatischen Länder.
Inzwischen sind wirtschaftlich und technologisch machtvolle Zentren entstanden, die regionalen Charakter besitzen: der Ferne Osten (angeführt von Japan), Europa und die USA. Die Ausrichtung und der Einfluss dieser Zonen zeigen einen augenscheinlichen Polyzentralismus, aber die Entwicklung der Ereignisse signalisiert, dass die USA zu ihrer technologischen, wirtschaftlichen und politischen Macht ihre militärische Kraft hinzufügen und so in der Lage sind, die wichtigsten Gebiete der Rohstoffversorgung zu kontrollieren. Im Prozess wachsender weltweiter Verflechtung strebt diese Supermacht danach, sich zur Führungskraft dieses aktuellen Prozesses aufzuschwingen - in Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung mit den regionalen Mächten. Das ist die letztliche Bedeutung der Neuen Weltordnung.
Dem Anschein nach ist die Epoche des Friedens noch nicht gekommen, obwohl sich momentan die Drohung eines Weltkriegs aufgelöst hat. Lokale, ethnische und religiöse Ausbrüche, soziale Unruhen, Völkerwanderungen und kriegerische Konflikte in eingeschränkten Gebieten scheinen diese vermeintliche Stabilität zu bedrohen. Andererseits bleiben die unterentwickelten Gebiete immer mehr hinter dem Wachstum der technologisch und wirtschaftlich beschleunigten Zonen zurück, und diese relative Kluft fügt diesem Schema zusätzliche Schwierigkeiten hinzu. Unter diesem Blickwinkel ist Lateinamerika ein exemplarischer Fall hierfür. Denn auch wenn die Wirtschaft einiger seiner Staaten in den nächsten Jahren ein bedeutendes Wachstum erfahren sollte, wird die Abhängigkeit von den Machtzentren immer offenkundiger.
Während die regionale und die weltweite Macht der multinationalen Konzerne zunimmt und sich das Finanzkapital konzentriert, verlieren die politischen Systeme an Autonomie, und die Gesetzgebung passt sich den Weisungen der neuen Mächte an. Zahlreiche Institutionen können heute direkt oder indirekt von den Abteilungen oder den Stiftungen der Konzerne ersetzt werden. Diese sind inzwischen an einigen Orten in der Lage, bei Geburt, Ausbildung, Arbeitsplatz, Ehe, Freizeit, Information, Versicherung, Pensionierung und Tod ihrer Angestellten und deren Kindern Unterstützung zu bieten. Dem Bürger bleiben bereits an einigen Orten die alten bürokratischen Formalitäten erspart, indem er sich einfach mit einer Kreditkarte und nach und nach mit einer Art elektronischem Geld versorgt, worauf nicht nur seine Ausgaben und seine Anlagen, sondern auch sein gesamtes Vorleben, das von Bedeutung ist, sowie seine augenblickliche Situation ordnungsgemäss gespeichert sind. Selbstverständlich bietet das alles jetzt schon einigen wenigen eine gewisse Freiheit von Verzögerungen und zweitrangigen Problemen, aber gerade diese persönlichen Vorteile werden auch einer Art verstecktem Kontrollsystem dienlich sein.
Während der technologische Fortschritt wächst und sich der Rhythmus des täglichen Lebens beschleunigt, verringern sich die politischen Beteiligungsmöglichkeiten, und die Entscheidungsgewalt entfernt sich und wird immer mittelbarer. Die Familie wird kleiner und zerfällt in immer unbeständigere und wechselhaftere Partnerschaften, die Kommunikation zwischen den Personen ist blockiert, die Freundschaft verschwindet, und das Konkurrenzdenken vergiftet sämtliche zwischenmenschlichen Beziehungen bis zu dem Punkt, an dem jeder jedem misstraut. Das Gefühl von Unsicherheit begründet sich nicht mehr nur auf der objektiven Tatsache einer zunehmenden Kriminalität, sondern vor allem auf einer diffusen Empfindung. Hinzu kommt, dass die Solidarität in der Gesellschaft, unter den Gruppen und zwischen den Personen schnell verschwindet, dass die Drogenabhängigkeit und der Alkoholismus verheerende Folgen haben und dass die Raten von Selbstmorden und Geisteskrankheiten gefährlich ansteigen. Natürlich gibt es überall eine gesunde und vernünftige Mehrheit, aber die Symptomanhäufung von Erscheinungen, die aus diesem Rahmen fallen, erlauben uns nicht mehr, von einer gesunden Gesellschaft zu sprechen.
Die Prägungslandschaft der neuen Generationen beruht auf allen Elementen der Krise, wie wir sie bereits aufgezählt haben. Aber nicht nur die technische und berufliche Ausbildung ist ein Teil ihres Lebens, sondern auch die Fernsehserien, die Empfehlungen der Meinungsbildner aus den Massenmedien, die Beteuerungen über die Vollkommenheit der Welt, in der wir leben, oder, wie vor allem bei der Jugend, die es sich leisten kann, das Motorrad als Freizeitvergnügen, die Reisen, die Kleidung, der Sport, die Musik und die elektronischen Geräte. Dieses Problem der Prägungslandschaft in den neuen Generationen droht gewaltige Breschen zwischen Gruppen unterschiedlichen Alters zu schlagen, indem sie eine heftige, generationsgebundene Dialektik auf den Tisch bringt, die eine ausgesprochene Tiefe und eine gewaltige geographische Ausbreitung aufweist.
Ganz deutlich hat sich an der Spitze der Werteskala der Mythos des Geldes plaziert, und diesem ordnet sich in zunehmendem Masse alles andere unter. Ein bedeutender Teil der Gesellschaft will nichts von alldem wissen, was an das Altern und an den Tod erinnert, und jedes Thema, das in Beziehung mit dem Sinn und der Bedeutung des Lebens steht, wird ausgeschlossen. Diese Haltung ist ein einem gewissen Sinn verständlich, da ja das Nachdenken über diese Punkte nicht mit der Werteskala, wie sie im System etabliert wurde, übereinstimmt.
Zu schwerwiegend sind die Symptome der Krise, um sie zu übersehen, und dennoch behaupten einige, dass dies der Preis sei, den man bezahlen müsse, um im ausgehenden 20. Jahrhundert existieren zu können. Andere beteuern, dass wir gerade in die beste aller Welten eintreten. Den Hintergrund, der in diesen Beteuerungen wirksam ist, gibt uns der historische Augenblick, in dem das globale Bild von der Situation gar nicht in Krise geraten ist, ausser den vereinzelten Krisen, die überall aus dem Boden schiessen. Aber in dem Masse, wie die Symptome des Zerfalls sich beschleunigen, wird sich ebenso die Einschätzung der Ereignisse verändern, weil die Notwendigkeit empfunden werden wird, neue Prioritäten zu setzen und neue Lebensprojekte anzugehen.

4. Die positiven Faktoren der Veränderung
Die wissenschaftliche und technologische Entwicklung kann nicht allein deswegen in Frage gestellt werden, weil einige ihrer Ergebnisse auch gegen das Leben und das Wohlbefinden angewandt wurden und werden. In den Fällen, in denen die Technologie in Frage gestellt wird, müsste man zuvor einige Überlegungen über die Merkmale des Systems anstellen, welches den Fortschritt des Wissens mit unsauberen Zielen verfolgt. Der Fortschritt in der Medizin, der Kommunikationsmittel, der Robotertechnik, der Gentechnik und anderer solcher Gebiete kann natürlich einer zerstörerischen Richtung dienlich sein. Dasselbe gilt für die Anwendung der Technik in der unvernünftigen Ausbeutung der Ressourcen, der industriellen Verschmutzung, der Verseuchung und der Umweltzerstörung. Aber das alles steht unter dem negativen Vorzeichen, das von der Wirtschaft und den Gesellschaftssystemen gesetzt wird. So wissen wir heute sehr genau, dass wir uns in der Lage befinden, die Probleme der Nahrungsmittelversorgung für die gesamte Menschheit lösen zu können, und dennoch stellen wir jeden Tag aufs neue fest, dass es Hungersnöte, Unterernährung und unmenschliches Leiden gibt, weil das System nicht dazu bereit ist, sich dieser Probleme anzunehmen, indem es seine vielgerühmten Errungenschaften zugunsten einer globalen Verbesserung des menschlichen Niveaus zurückhält. Auch nehmen wir wahr, dass die Tendenzen in Richtung einer Regionalisierung und nicht zuletzt in Richtung einer Globalisierung von bestimmten Interessen zum Schaden der grossen Gemeinschaften manipuliert wird. Trotzdem wird deutlich, dass sich in dieser verzerrten Richtung der Prozess Schritt für Schritt hin zu einer universellen menschlichen Nation öffnet. Die beschleunigte Veränderung, wie sie sich uns in der Welt darstellt, führt zu einer globalen Krise des Systems und einer darausfolgenden Neuordnung der Faktoren. Das alles wird die notwendige Voraussetzung dafür sein, dass wir eine angemessene Stabilität und eine harmonische Entwicklung der Erdkugel erreichen. Folglich wird die menschliche Spezies trotz der Tragödien, die wir im Zerfall dieses augenblicklichen globalen Systems erkennen können, die Oberhand über alle Einzelinteressen gewinnen. Im Verständnis der Richtung der Geschichte, die mit unseren hominiden Vorfahren begann, wurzelt unser Glaube in die Zukunft. Diese Spezies, die während Millionen von Jahren gearbeitet und gekämpft hat, um Schmerz und Leiden zu überwinden, wird nicht der Absurdität unterliegen. Deshalb ist es notwendig, die weitergehenden Prozesse und nicht die einzelnen Ereignisse zu verstehen und all das zu unterstützen, was in Richtung einer Entwicklung geht, auch wenn man nicht die unmittelbaren Ergebnisse sehen kann. Die Entmutigung entschlossener und solidarischer Menschen verzögert den Gang der Geschichte. Aber es ist schwierig, das zu verstehen, wenn das persönliche Leben sich nicht organisiert und gleichfalls an der positiven Richtung orientiert. Hier sind keine mechanischen Faktoren oder geschichtlichen Determinismen im Spiel, hier ist die menschliche Absicht am Werk, die sich den Weg trotz aller Schwierigkeiten bahnt.
Ich hoffe, liebe Freunde, in meinem nächsten Brief bestärkendere Themen streifen zu können und die Beobachtung negativer Faktoren beiseite lassen zu können, um Vorschläge zu umreissen, die mit unserem Glauben an eine bessere Zukunft für alle übereinstimmen.

Empfangt mit diesem Brief einen herzlichen Gruss


Silo, 5.12.91

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