Fünfter Brief an meine Freunde

Liebe Freunde,
sehr viele Leute machen sich Sorgen über die Entwicklung der aktuellen Ereignisse. Unter diesen treffe ich oft ehemalige Aktivisten fortschrittlicher Parteien oder politischer Organisationen. Viele von ihnen haben sich noch nicht von dem Schock erholt, den der Fall des ‹realen Sozialismus› in ihnen hervorgerufen hat. Auf der ganzen Welt entscheiden sich Hunderttausende von Aktivisten dafür, sich in ihre alltäglichen Beschäftigungen zurückzuziehen. Mit dieser Haltung geben sie zu verstehen, dass sie einen Schlussstrich unter ihre alten Ideale gezogen haben. Was für mich eine Tatsache mehr in der Auflösung zentralistischer Strukturen darstellte, die ich überdies seit zwei Jahrzehnten erwartet habe, war für sie eine unvorhergesehene Katastrophe. Dies ist jedoch nicht der Moment, sich darauf etwas einzubilden, hat doch die Auflösung dieser politischen Form ein Ungleichgewicht von Kräften erzeugt, das einem in seiner Vorgehensweise und seiner Richtung ungeheuerlichen System freien Vormarsch gewährt.
Vor ein paar Jahren nahm ich an einer Kundgebung teil, bei der alte Arbeiter, arbeitende Mütter mit ihren Kindern und kleinere Gruppen von Jugendlichen mit erhobener Faust ihre Protestgesänge erklingen liessen. Man konnte das Wehen der Fahnen sehen und das Echo glorreicher Kampfparolen vernehmen... Als ich dies sah, war mir, als ob all dieser Wille, all diese Risikobereitschaft, diese Tragödie und diese Anstrengung, die von aufrichtigen Beweggründen getragen wurden, sich wie durch einen Tunnel entfernten, der zur absurden Verneinung der Veränderungsmöglichkeiten führte. Ich hätte diese bewegende Szene gerne mit einem Lied begleitet, einem Lobgesang auf die Ideale der alten Aktivisten, die - ohne an den Erfolg zu denken - ihren kämpferischen Stolz aufrechterhielten. All dies erzeugte in mir einen ungeheuren Zwiespalt, und heute, aus der Entfernung, frage ich mich: Was ist mit all diesen guten Leuten passiert, die solidarisch und über ihre unmittelbaren Interessen hinaus für eine Welt kämpften, von der sie glaubten, sie wäre die beste aller Welten? Dabei denke ich nicht nur an jene, die mehr oder weniger institutionalisierten politischen Parteien angehörten, sondern an all diejenigen, die die Wahl trafen, ihr Leben in den Dienst einer Sache zu stellen, die sie für gerecht hielten. Selbstverständlich kann ich sie weder an ihren Fehlern messen noch sie einfach als Exponenten einer politischen Philosophie abstempeln. Heutzutage ist es nötig, den Wert des Menschlichen wiederaufzugreifen und die Ideale in einer gangbaren Richtung wiederaufleben zu lassen.
Ich denke über das nach, was ich bis hierher geschrieben habe, und bitte alle diejenigen um Entschuldigung, die nicht an jenen Strömungen und Aktivitäten teilgenommen haben und denen deshalb diese Themen fremd erscheinen. Aber auch von ihnen verlange ich die Anstrengung, sich über Themen Gedanken zu machen, die die Werte und Ideale der menschlichen Handlung betreffen. Darum wird es 
in dem heutigen Brief gehen, ein bisschen hart zwar, aber mit dem Ziel, den Nihilismus zurückzudrängen, der sich des Kampfgeistes bemächtigt zu haben scheint.

1. Das wichtigste Thema: Zu wissen, ob und unter welchen Bedingungen man leben will
Millionen von Menschen kämpfen heute ums Überleben, ohne zu wissen, ob sie morgen Hunger, Krankheiten und Verlassensein besiegen können. Ihre Not ist so gross, dass jede Sache, die sie unternehmen, um diesen Problemen zu entkommen, ihr Leben noch schwerer macht. Werden sie untätig bleiben, wie bei einem lediglich hinausgezögerten Selbstmord? Werden sie Verzweiflungstaten begehen? Welche Art von Aktivitäten werden sie bereit sein zu unternehmen? Welches Risiko werden sie auf sich nehmen, welche Hoffnung aufrechterhalten?
Was werden all jene tun, die sich aus wirtschaftlichen, sozialen oder einfach persönlichen Gründen in einer Extremsituation befinden? Das wichtigste Thema wird immer das sein, zu wissen, ob man leben will und unter welchen Bedingungen.

2. Die menschliche Freiheit, Quelle jedes Sinnes
Selbst jene, die sich nicht in einer Extremsituation befinden, werden ihre momentanen Lebensumstände in Frage stellen, indem sie ein Modell ihres zukünftigen Lebens entwerfen. Und sogar der, der es vorzieht, nicht über seine Situation nachzudenken oder anderen die Verantwortung dafür zu übertragen, wird ein bestimmtes Lebensmodell wählen. Auf diese Weise stellt die Freiheit zur Wahl von dem Moment an eine Realität dar, in dem wir uns fragen, ob wir leben wollen, und darüber nachdenken, unter welchen Bedingungen wir dies tun wollen. Ob wir nun für diese Zukunft kämpfen oder nicht, die Freiheit zur Wahl bleibt immer bestehen. Und einzig und allein diese Tatsache des menschlichen Lebens kann die Existenz der Werte, der Moral, des Rechts und jeglicher Verpflichtung rechtfertigen. Zugleich erlaubt sie, jede Politik, jede soziale Organisation und jeden Lebensstil zurückzuweisen, die sich durchsetzen wollen, ohne ihren Sinn zu rechtfertigen und zu begründen, wozu sie dem konkreten und gegenwärtigen Menschen dienen sollen. Jede Moral, Gesetzgebung oder Gesellschaftsform, die von angeblich notwendigen, dem menschlichen Leben übergeordneten Grundsätzen ausgeht, stellt dieses als etwas Zufälliges, nur Mögliches hin und verneint damit die Freiheit als wesentlichen Sinn des menschlichen Lebens.

3. Die Absicht, die der Handlung die Richtung gibt
Wir werden in Bedingungen hineingeboren, die wir nicht gewählt haben. Wir haben weder unseren Körper noch unsere natürliche Umgebung und die Gesellschaft noch die Zeit und den Raum gewählt, die uns glücklicher- oder unglücklicherweise zufielen. Von da an besitzen wir in jedem Moment die Freiheit, uns umzubringen oder weiterzuleben und über die Bedingungen nachzudenken, unter denen wir leben möchten. Wir können uns gegen eine Tyrannei auflehnen und dabei siegen oder auch sterben. Wir können für eine Sache kämpfen oder der Unterdrückung in die Hände arbeiten. Wir können ein Lebensmodell akzeptieren oder versuchen, es zu verändern. Wir können uns auch in unserer Wahl irren. Wir können glauben, dass wir uns vollkommen anpassen, wenn wir all das in einer Gesellschaft Bestehende, so pervers es auch sein mag, akzeptieren, und wir können weiter glauben, dass uns dies die besten Lebensbedingungen verschafft. Wir können genausogut annehmen, dass wir unseren Grad an Freiheit erweitern, indem wir alles in Frage stellen, ohne dabei zwischen erst- und zweitrangigen Dingen zu unterscheiden. In Wirklichkeit jedoch kommt es zu dem Phänomen einer wachsenden Nichtanpassung, und unser Einfluss, die Dinge zu verändern, wird sich verringern. Und schliesslich können wir der Handlung den Vorrang geben, die unseren Einfluss in eine Richtung erweitert, in der die Umsetzung unserer Absichten möglich ist und die unserem Dasein einen Sinn gibt. In all diesen Fällen müssen wir zwischen Bedingungen und Notwendigkeiten wählen, und wir tun dies in Übereinstimmung mit unserer Absicht und dem Lebensmodell, für das wir uns entschieden haben. Selbstverständlich wird sich auch die Absicht selbst auf einem solchen von Zufällen gekennzeichneten Weg verändern können.

4. Was werden wir mit unserem Leben machen?
Wir können uns diese Frage nicht abstrakt stellen, sondern nur in bezug auf die Situation, in der wir leben, und in bezug auf die Bedingungen, in denen wir leben wollen. Zunächst einmal befinden wir uns in einer Gesellschaft und in Beziehung zu anderen Menschen, und unser Schicksal hängt mit ihrem zusammen. Wenn wir glauben, dass in der Gegenwart alles gut ist, und mit der persönlichen und sozialen Zukunft, die wir auf uns zukommen sehen, einverstanden sind, dann gibt es kein anderes Thema als weiterzumachen, vielleicht mit kleinen Reformen, aber alles in allem in dieselbe Richtung. Wenn wir im Gegensatz dazu meinen, dass wir in einer gewalttätigen, ungleichen und ungerechten Gesellschaft leben, die von fortschreitenden Krisen betroffen ist, die ihrerseits vom schwindelerregenden Wandel der Welt herrühren, dann denken wir sofort über die Notwendigkeit von tiefgreifenden Veränderungen auf persönlicher und sozialer Ebene nach.
Die weltweite Krise betrifft uns und reisst uns mit sich, wir verlieren stabile Bezugspunkte, und es fällt uns immer schwerer, unsere Zukunft zu planen. Das Schwerwiegendste dabei ist, dass wir keine zusammenhängende Handlung in Richtung eines Wandels vorantreiben können, denn die althergebrachten Formen des Kampfes sind gescheitert und die Auflösung des sozialen Geflechts verhindert, dass sich grössere Menschengruppen in Gang setzen. Selbstverständlich passiert uns dasselbe wie allen Menschen, die unter den gegenwärtigen Schwierigkeiten leiden und die erahnen, dass sich die Bedingungen noch verschlechtern werden. Niemand kann, selbst wenn er das wollte, auf Handlungen setzen, deren Scheitern schon vorbestimmt ist. Gleichzeitig ist es aber auch unmöglich, einfach so weiterzumachen, und das Schlimmste dabei ist, dass wir durch unser Nicht- Handeln den Weg für noch grössere Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten frei machen. Formen der Diskriminierung und der Ungerechtigkeit, die wir überwunden glaubten, entstehen mit Kraft von neuem.
Wenn die Desorientierung und die Krise so gross sind, warum sollte es dann nicht möglich sein, dass neue Ungeheuerlichkeiten als soziale Bezugspunkte auftauchen? Deren Vertreter werden zunächst deutlich zu verstehen geben und später vorschreiben, was alle und jeder von uns zu tun haben. Das Entstehen solcher primitiver Strömungen ist heute leichter möglich als je zuvor, da sich ihre einfachen Ideen leicht verbreiten können und sogar zu denen gelangen, die sich in einer Extremsituation befinden.
Viele mehr oder weniger informierte Leute wissen zwar, dass die Situation im Sinne des vorher Gesagten kritisch ist, aber trotzdem entscheiden sich immer mehr Leute nachdrücklich dafür, sich um ihr eigenes Leben zu kümmern und die Schwierigkeiten der anderen sowie das, was in der Gesellschaft vorgeht, nicht zu beachten. In vielen Fällen begrüssen wir zwar die Einwände, die gegen das System vorgebracht werden, sind aber weit davon entfernt, etwas für einen Wandel der Bedingungen zu unternehmen. Wir wissen, dass die gegenwärtige Demokratie nur formell ist und dem Diktat wirtschaftlicher Gruppen gehorcht. Trotzdem beruhigen wir unser Gewissen durch lächerliche Stimmabgaben für die Mehrheitsparteien, weil wir der Erpressung auf den Leim gegangen sind, entweder dieses System zu unterstützen oder das Aufkommen der Diktaturen zu ermöglichen. Wir denken nicht einmal daran, dass sich aus der Tatsache, seine Stimme zugunsten kleiner Parteien abzugeben und auch andere dafür zu gewinnen, in Zukunft ein interessantes Phänomen ergeben könnte; ebenso könnte sich die Bildung gewerkschaftlicher Organisationen ausserhalb des etablierten Rahmens durch entsprechende Unterstützung in einen wichtigen Anziehungspunkt für progressive Kräfte verwandeln. Wir lehnen die in den Dörfern, Gemeinden, Stadtteilen und in unserem persönlichen Umfeld verwurzelte Aktivität ab, da wir sie für zu begrenzt halten. Wir wissen aber, dass in der Stunde der Krise der zentralistischen Strukturen gerade hier die Wiederherstellung des sozialen Geflechts beginnen wird. Wir ziehen es vor, unsere Aufmerksamkeit auf das Spiel an der Oberfläche, das Spiel der Führungsspitzen, der Prominenten und der Meinungsbildner zu richten, anstatt die Ohren zu spitzen, um den unterschwelligen Protest des Volkes zu vernehmen. Wir beschweren uns über das massive Wirken der von den wirtschaftlichen Gruppen kontrollierten Massenmedien, anstatt uns aufzumachen, um über die kleinen Medien Einfluss zu gewinnen und jede Gelegenheit zur sozialen Kommunikation zu nutzen. Und wenn wir weiter in einer fortschrittlichen politischen Organisation aktiv sind, versuchen wir uns irgendeinen pressewirksamen Wirrkopf zu angeln, irgendeine ‹Persönlichkeit›, die unsere Strömung repräsentiert, da sie bei den Medien des Systems mehr oder weniger gut ankommt. Im Grunde passiert uns all dies, weil wir glauben, dass wir besiegt sind und uns keine andere Möglichkeit bleibt, als in Stille an unserer Verbitterung zu nagen. Und diese Niederlage nennen wir ‹uns unserem eigenen Leben widmen›. Währenddessen häufen sich in unserem eigenen Leben Widersprüche an, und wir verlieren den Sinn und die Fähigkeit, die Bedingungen auszuwählen, in denen wir leben wollen. Letztendlich denken wir nicht einmal an die Möglichkeit einer grossen Bewegung des Wandels, die einen Bezugspunkt darstellen könnte und die positivsten Faktoren der Gesellschaft zusammenbrächte, und selbstverständlich hindert uns die Enttäuschung daran, uns selbst als Hauptdarsteller dieses Prozesses der Veränderung zu sehen.

5. Die unmittelbaren Interessen und das Gewissen
Wir müssen die Bedingungen wählen, in denen wir leben wollen. Wenn wir entgegen unserem Lebensprojekt handeln, werden wir dem Widerspruch, der uns einer langen Kette von unglücklichen Ereignissen ausliefern wird, nicht entkommen. Wenn dann die Ereignisse in unserem eigenen Leben in diese Richtung laufen, wie können wir dann diese Entwicklung bremsen? Natürlich nur, indem wir uns um unsere unmittelbaren Interessen kümmern. So können wir uns zahlreiche Extremsituationen vorstellen, aus denen wir herauszukommen versuchen werden, indem wir jegliche Werte und jeglichen Sinn opfern, da unsere Priorität der unmittelbare Vorteil sein wird. Um Schwierigkeiten zu vermeiden, werden wir zwar versuchen, jeder Verpflichtung auszuweichen, die uns der Extremsituation näher bringt, zwangsläufig werden uns jedoch die Ereignisse selbst in Situationen bringen, die wir nicht gewählt haben. Und wenn die Personen, die uns am nächsten stehen, diese Haltung teilen, braucht man nicht besonders scharfsinnig zu sein, um zu verstehen, was mit ihnen geschehen wird. Warum sollten sie sich durch ihre Wahl nicht gegen uns richten, wenn sie doch von derselben Unmittelbarkeit angetrieben werden?
Und warum sollte nicht auch eine ganze Gesellschaft diese Richtung einschlagen? Es gäbe keine Grenze für die Willkür, und die ungerechtfertigte Macht würde sich durchsetzen. Zudem würde sie dort, wo sie auf Widerstände stösst, nackte Gewalt anwenden, und ansonsten würde es ihr genügen, unsere Zustimmung zu an sich unhaltbaren Werten durch Überredung zu gewinnen. Diese Zustimmung würde uns zwar als Rechtfertigung für unser Handeln dienen, aber im tiefsten Inneren unseres Herzens würden wir die Sinnleere des Lebens empfinden. In diesem Fall hätte die Entmenschlichung der Erde gesiegt.
Die Wahl eines Lebensprojekts unter Bedingungen, denen wir unterworfen sind, ist keinesfalls bloss ein tierischer Reflex. Ganz im Gegenteil: Sie stellt das wesentliche Merkmal des Menschen dar. Wenn wir das verneinen, was den Menschen ausmacht, werden wir seine Geschichte aufhalten und müssen somit auf Schritt und Tritt mit dem Voranschreiten der Zerstörung rechnen. Wenn das Recht, ein Lebensprojekt und ein ideales Gesellschaftsmodell zu wählen, untersagt wird, werden wir nur Karikaturen des Rechts, der Werte und des Sinnes vorfinden. Wenn es dann soweit ist, was können wir der ganzen Neurose und den Ausschreitungen, die wir um uns herum zu erleben beginnen, entgegenhalten? Jeder von uns wird sehen, was er mit seinem Leben macht. Aber jeder muss auch im Auge behalten, dass seine Handlungen über ihn selbst hinausreichen werden, gleichgültig, ob seine Einflussmöglichkeiten sehr klein oder sehr gross sind. In Situationen, in denen die Richtung des Lebens auf dem Spiel steht, ist man unweigerlich mit einheitlichen, von Sinn erfüllten Handlungen oder widersprüchlichen, von der Unmittelbarkeit bestimmten Handlungen konfrontiert.

6. Das Opfern der Ziele zugunsten situationsbezogener Erfolge - einige gewöhnliche Fehler
Jeder Mensch, der sich einer gemeinsamen Aktion verpflichtet hat, jeder, der gemeinsam mit anderen sinnvolle soziale Ziele verfolgt, sollte sich die vielen Fehler vor Augen führen, die in der Vergangenheit die besten Vorhaben zu Fall gebracht haben. In den Geschichtsbüchern und in unserem persönlichen Gedächtnis finden wir eine Fülle von Beispielen für lächerliches Machtstreben im Stile Machiavellis, für jegliche Formen des Autoritarismus sowie für Persönlichkeitskulte, die über die proklamierte gemeinsame Aufgabe gestellt wurden.
Mit welchem Recht wird eine Lehre, ein Handlungskonzept oder eine menschliche Organisation benutzt, wenn man doch die Prioritäten, die sie aufstellen, in den Hintergrund schiebt? Mit welchem Recht schlagen wir anderen einen Zweck und ein Ziel vor, wenn wir bald darauf einen angeblichen Erfolg oder eine angebliche Notsituation als vorrangigen Wert hinstellen? Worin läge dann der Unterschied zu dem Pragmatismus, den wir zu verabscheuen vorgeben? Wo wäre dann die Kohärenz zwischen dem, was wir denken, was wir fühlen und wie wir handeln? 
Die Demagogen aller Zeiten haben den grundlegenden moralischen Betrug begangen, anderen ein motivierendes Bild von der Zukunft zu präsentieren, während sie das Bild eines unmittelbaren Erfolges für sich behielten. Wenn die Absicht, auf die man sich mit anderen geeinigt hat, geopfert wird, wird jeglichem Verrat, den man mit der angeblich verfeindeten Partei aushandelt, Tür und Tor geöffnet. In diesem Fall wird eine solche Unredlichkeit mit etwas angeblich ‹Notwendigem› gerechtfertigt, das im ursprünglichen Vorschlag unterschlagen wurde. Es sollte klar sein, dass wir nicht vom Wechsel von Bedingungen und Taktiken sprechen, bei denen jeder Beteiligte den Zusammenhang zwischen ihnen und dem vorgeschlagenen Ziel, das zur Handlung bewegt, versteht. Wir beziehen uns auch nicht auf die Fehler in der Einschätzung, die man bei der konkreten Umsetzung begehen kann. Wir beobachten vielmehr die Unmoralität, welche die Absichten verzerrt und gegenüber der man unbedingt wachsam sein muss. Es ist wichtig, auf uns selbst aufmerksam zu sein und andere aufzuklären, damit sie von vornherein wissen, dass unsere Hände genauso frei bleiben wie ihre, wenn sie ihre Verpflichtungen brechen.
Natürlich gibt es verschiedenste Formen von List und Tücke, um Menschen auszunutzen, und es ist nicht möglich, einen vollständigen Katalog aufzustellen. Wir wollen auch nicht die Rolle des ‹Moralpredigers› einnehmen, da wir wohl wissen, dass sich hinter einer solchen Haltung eine unterdrückende Moral verbirgt. Diese zielt darauf ab, jede Aktion, die sie nicht unter Kontrolle hat, zu sabotieren, indem sie die Kampfgenossen durch das gegenseitige Misstrauen lähmt. Wenn also scheinbare Werte aus einem anderen Lager eingeschmuggelt werden, um unsere Handlungen zu beurteilen, ist es gut, sich daran zu erinnern, dass eben diese ‹Moral› in Frage gestellt ist und dass sie nicht mit der unsrigen übereinstimmt... Wie könnten solche Leute unter uns sein?
Schliesslich ist es wichtig, auf die betrügerische Politik der kleinen Schritte zu achten, die man anzuwenden pflegt, um Situationen zu provozieren, die den gestellten Zielen zuwiderlaufen. Diese Haltung ist jedem zu eigen, der uns aus anderen Gründen als denen, die er angibt, begleitet: Seine geistige Richtung ist von Anfang an verdreht und wartet nur auf die Gelegenheit, sich zu offenbaren. In der Zwischenzeit wird er sich schrittweise einer offensichtlichen oder getarnten Ausdrucksweise bedienen, die auf Doppelzüngigkeit basiert. Diese Haltung trifft man fast immer bei jenen an, die im Namen einer kämpferischen Organisation andere Leute guten Willens in Verruf bringen, indem sie die Verantwortung für ihre Übeltaten den ehrlichen Leuten in die Schuhe schieben.
Es geht nicht darum, auf den seit langer Zeit bekannten sogenannten ‹internen Problemen›, die es in jeder menschlichen Organisation gibt, herumzureiten. Aber es schien mir sinnvoll, die Wurzel dieser Probleme darzustellen, die darin besteht, rein situationsbezogen zu handeln und dabei den anderen ein motivierendes Bild der Zukunft zu präsentieren, während man das Bild eines unmittelbaren Erfolges für sich behält.

7. Das Reich des Zweitrangigen
Die gegenwärtige Situation ist so, dass Ankläger jeglicher Herkunft und Färbung sich wie Staatsanwälte aufspielen und Erklärungen verlangen, wobei sie wie selbstverständlich voraussetzen, dass man ihnen die eigene Unschuld beweisen muss. Das Interessante daran ist, dass ihre Taktik auf der übersteigerten Betonung des Zweitrangigen beruht; konsequenterweise werden dabei die wichtigen Probleme unter den Tisch gekehrt. Irgendwie erinnert diese Haltung an die Art und Weise, wie Demokratie in den Betrieben funktioniert. Tatsächlich diskutieren die Angestellten darüber, ob im Büro die Schreibtische am Fenster oder an der Wand stehen sollten, ob man Blumen aufstellen oder die Wände in angenehmen Farben streichen sollte, was an sich nicht schlecht ist. Danach stimmen sie ab und entscheiden durch Mehrheitsbeschluss über das Schicksal der Möbel und der Dekoration, was an sich auch nicht schlecht ist. Aber wenn es darum geht, Diskussionen und Abstimmungen über die Leitung und die Geschäfte der Firma anzuregen, stellt sich eine erschreckende Stille ein... Augenblicklich erstarrt die Demokratie, da man sich in Wirklichkeit im Reich des Zweitrangigen befindet. Genau dasselbe passiert mit den Anklägern aus dem System. Auf einmal nimmt ein Journalist diese Rolle ein und verwandelt unsere gastronomischen Vorlieben in etwas Verdächtiges oder verlangt, dass wir zu Fragen des Sports, der Astrologie oder des Katechismus Stellung beziehen. Selbstverständlich werden auch plumpe Anschuldigungen gemacht in der Annahme, dass wir darauf antworten müssten. Auch mangelt es nicht an der Verzerrung von Zusammenhängen, dem Gebrauch doppeldeutiger Begriffe und Manipulationsversuchen, um jemanden in Widersprüche zu verwickeln. Es ist gut, sich daran zu erinnern, dass jene, die sich in Opposition zu uns plazieren, das Recht haben, von uns erklärt zu bekommen, warum sie nicht die Voraussetzungen erfüllen, um ein Urteil über uns zu fällen, und warum wir dagegen das volle Recht haben, sie anzuklagen. Auf jeden Fall müssen sie ihre Haltung gegen unsere Einwände verteidigen. Ob dies machbar ist, wird selbstverständlich von bestimmten Bedingungen und den persönlichen Fähigkeiten der Gesprächspartner abhängen. Aber es tut einem in der Seele weh, zu sehen, wie einige Menschen, die das volle Recht hätten, die Initiative zu ergreifen, vor solch haltlosen Argumenten klein beigeben. Auch erfüllt es einen mit trauriger Peinlichkeit, gewisse Führungspersönlichkeiten auf dem Bildschirm zu beobachten, wie sie geistreiche Reden von sich geben, schwerfällig wie Elefanten mit der Moderatorin tanzen oder sich jeglicher Art von Peinlichkeiten unterwerfen, bloss um in der ersten Reihe zu stehen. Viele Leute mit guten Absichten folgen diesen wunderbaren Beispielen und verstehen dann nicht, warum ihre Botschaft entstellt und missverstanden wird, wenn sie sie über die Massenmedien einem grossen Publikum zukommen lassen.
Das bisher Dargestellte hebt einige Aspekte aus dem Reich des Zweitrangigen hervor, die die wichtigen Themen in den Hintergrund drängen. Dies führt zu einer Fehlinformation der Öffentlichkeit, die man aufzuklären vorgibt. Kurioserweise gehen viele fortschrittliche Leute in diese Falle, ohne zu verstehen, dass die scheinbare Publizität, die sie dadurch erlangen, genau den gegenteiligen Effekt hat.
Und schliesslich dürfen wir auch keine Positionen dem gegnerischen Lager preisgeben, die wir eigentlich verteidigen müssen. Jeder könnte daherkommen und unsere Haltung als blosse Nichtigkeit abtun, indem er behauptet, auch er sei z.B. ein ‹Humanist›, da er sich ja um das Menschliche sorge, oder er sei ‹gewaltfrei›, weil er gegen Krieg sei, oder er diskriminiere nicht, weil er einen Schwarzen oder einen Kommunisten zum Freund habe, oder er sei ökologisch, weil er die Seehunde oder die Parks für schützenswert hielte. Doch wenn man weiter nachbohrt, wird er nichts von dem, was er sagt, wirklich begründen können, und wird so sein wahres antihumanistisches, gewalttätiges, diskriminierendes und umweltzerstörerisches Antlitz zeigen.
Die vorangegangen Kommentare bezüglich einiger Ausdrucksformen des Reichs des Zweitrangigen bringen uns sicher keine neuen Erkenntnisse. Aber manchmal lohnt es der Mühe, einige unaufmerksame Aktivisten zu warnen, denn bei dem Versuch, ihre Ideen mitzuteilen, merken sie oft nicht, auf welch ein seltsames Gebiet sie sich begeben.
Ich hoffe, ihr verzeiht mir die Unbequemlichkeit, einen solchen Brief gelesen zu haben, der sich nicht auf eure Probleme und Interessen bezieht. Ich bin sicher, dass wir im nächsten Brief mit unseren mehr unterhaltsamen Themen fortfahren können.

Empfangt mit diesem Brief einen herzlichen Gruss


Silo, 4.6.92

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