Siebter Brief an meine Freunde

Liebe Freunde,
heute werden wir über die soziale Revolution sprechen. Wie ist das überhaupt möglich? Einige Schlauköpfe erzählen uns nämlich, dass das Wort ‹Revolution› nach dem Scheitern des ‹realen Sozialismus› bereits überholt sei. Möglicherweise herrscht in ihren Köpfen die Überzeugung, dass die Revolutionen vor 1917 nur Vorbereitungen für die ‹ernsthafte› Revolution waren. Klar, wenn die ‹ernsthafte› Revolution schon gescheitert ist, dann ist das Thema gestorben. Wie üblich betreiben die Schlauköpfe eine ideologische Zensur und nehmen für sich das Privileg in Anspruch, Trends und Begriffen eine Berechtigung zuzugestehen oder nicht. Diese Funktionäre des Geistes - oder, besser gesagt, der Massenmedien - haben mit uns weiterhin grundlegende Differenzen: So dachten sie früher, dass der sowjetische Block bis in alle Ewigkeit bestünde, und jetzt glauben sie, dass der Triumph des Kapitalismus eine unabänderliche Wirklichkeit sei. Sie setzen voraus, dass das Wesentliche einer Revolution das Blutvergiessen sei; wehende Fahnen, Aufmärsche, Pathos und flammende Reden runden dieses Bild ab. In ihrer Prägungslandschaft wirken noch immer die Filmkunst und die Mode von Pierre Cardin. Wenn sie heute beispielsweise an den Islam denken, stellen sie sich eine Frauenmode vor, die ihnen Unbehagen bereitet. Wenn sie dann auf die japanische Wirtschaft zu sprechen kommen, dann können sie es nicht lassen, über das Tragen von Kimonos, das schon wieder in Mode kommen soll, herzuziehen. Wenn sie als Kinder in Piratenfilmen und -büchern aufgingen, dann fühlten sie sich später von Katmandu angezogen, dem Inselleben, dem Naturschutz und der ‹natürlichen› Mode. Wenn sie andererseits die Western und die Action-Filme genossen haben, so sahen sie später Fortschritt mit Konkurrenzkampf und Revolutionen mit Schiesspulver verbunden.
In der heutigen Welt sind wir immer und überall von den Codes der Massenmedien umgeben. Meinungsmacher zwingen uns ihre Botschaft durch Zeitungen, Zeitschriften und Radiosender auf. Nicht allzu intelligente Schriftsteller legen die Themen fest, die unbedingt diskutiert werden müssen, während vernünftige Leute versuchen, uns über das aktuelle Weltgeschehen aufzuklären... Tagtäglich sieht man den Club der Meinungsmacher auf dem Bildschirm. Seine Mitglieder erteilen sich gegenseitig das Wort - schön einer nach dem anderen: Erst die Psychologin, dann der Soziologe, anschliessend der Politologe, daraufhin der Modemacher, schliesslich die Reporterin, die Kaddhafi interviewte, und zu guter Letzt auch noch der mehrdeutige Astrologe. Übereinstimmend schreien sie dann alle zusammen: «Revolution? Sie sind ja total altmodisch!» Letztendlich kommt die öffentliche Meinung (das heisst, die Meinung, die veröffentlicht wird) zu dem Schluss, dass trotz einiger momentaner Schwierigkeiten alles besser werden wird, und erklärt ausserdem jegliche Revolution für tot.
Welches gut formulierte Ideenkonzept wurde bis jetzt vorgestellt, das den revolutionären Prozess in der heutigen Welt disqualifizieren würde? Bisher wurden nur Meinungen aus dem Showbusiness präsentiert. Es gibt also keine fundierten Konzepte, die es verdienen, ernsthaft diskutiert zu werden.
Gehen wir also gleich zu wichtigen Fragen über.

1. Zerstörerisches Chaos oder Revolution
Wir haben in dieser Reihe von Briefen mehrere Kommentare über die allgemeine Situation gemacht, in der wir leben. Aufgrund dieser Beschreibungen gelangen wir zu folgender Schlussfolgerung: Entweder werden wir von einer immer absurderen und zerstörerischeren Tendenz mitgenommen, oder wir müssen den Ereignissen eine andere Richtung geben. Hinter dieser Darlegung wirkt die Dialektik der Freiheit gegenüber dem Determinismus; die Suche des Menschen nach der Möglichkeit zur Wahl und dem Engagement gegenüber mechanischen Tendenzen und Prozessen, die in eine entmenschlichende Richtung führen. Entmenschlichend ist die Konzentration des Grosskapitals bis hin zu seinem weltweiten Kollaps. Entmenschlichend wird die daraus entstehende Welt sein, heimgesucht von Hungersnöten, Völkerwanderungen, Kriegen und fortdauernden Kämpfen, alltäglicher Unsicherheit, allgemeiner Willkür, Chaos, Ungerechtigkeit, Einschränkung der Freiheit und dem Triumph neuer Obskurantismen. Entmenschlichend wird es sein, noch einmal eine Runde zu drehen, bis eine andere Zivilisation entsteht, die noch einmal die gleichen dummen Fehler machen wird - wenn dies überhaupt möglich wäre nach dem Niedergang dieser ersten planetarischen Zivilisation, die gerade jetzt Gestalt annimmt. Aber in dieser langen Geschichte ist das Leben der Generationen und der Individuen so kurz und so unmittelbar, dass jeder einzelne das allgemeine Schicksal als eine Erweiterung seines eigenen Schicksals ansieht, anstatt sein persönliches Schicksal als eingeschränktes allgemeines Schicksal... So ist also das Heute für die Menschen viel überzeugender als ihr Morgen oder das ihrer Kinder. Und selbstverständlich haben Millionen von Menschen so grosse existentielle Not, dass kein Raum für die Vorstellung einer hypothetischen Zukunft bleibt. Allein in diesem Augenblick spielen sich so viele Tragödien ab, die eigentlich ausreichen sollten, um für eine tiefgreifende Veränderung der allgemeinen Situation zu kämpfen. Warum sprechen wir also vom Morgen, wenn die heutige Not so gross ist? Ganz einfach deshalb, weil das Zukunftsbild immer mehr manipuliert wird und man dazu angehalten wird, die gegenwärtige Situation zu ertragen, als handle es sich um eine unbedeutende, erträgliche Krise. «Jede wirtschaftliche Anpassung» - so theoretisieren sie - «hat ihren sozialen Preis.» «Es ist bedauerlich» - so sagen sie -, «aber damit es uns allen in Zukunft gutgeht, müsst ihr eine harte Gegenwart in Kauf nehmen.» «Gab es etwa früher» - so fragen sie - «dieses technische und medizinische Entwicklungsstadium in den wohlhabenderen Gegenden?» «Auch ihr werdet an die Reihe kommen» - versichern sie -, «auch ihr!»
Und während man uns vertröstet, vergrössern die, die uns den Fortschritt für alle versprochen haben, die Kluft zwischen der reichen Minderheit und der immer stärker gebeutelten Mehrheit. Diese soziale Ordnung zwingt uns in einen Teufelskreis, der sich selbst laufend verstärkt und ein globales System schafft, dem kein Ort der Welt entgehen kann. Aber genauso offensichtlich ist, dass die Leute überall beginnen, den Versprechungen der sozialen Elite keinen Glauben mehr zu schenken. Ihre Positionen werden immer radikaler, und der allgemeine Aufruhr beginnt. Werden wir jeder gegen jeden kämpfen? Werden einige Kulturen gegen die anderen kämpfen, einige Kontinente gegen die anderen, einige Regionen gegen andere, einige Volksgruppen gegen die anderen, einige Nachbarn gegen andere und die einen Familienmitglieder gegen die anderen? Werden wir die richtungslose Spontaneität wählen - wie verwundete Tiere, die vor Schmerz weglaufen -, oder werden wir die willkommenen Unterschiede in den Prozess der weltweiten Revolution mit einbeziehen? Was ich deutlich zu machen versuche, ist folgendes: Wir stehen vor der Alternative des simplen, zerstörerischen Chaos oder der Revolution als Richtung, welche die Unterschiede zwischen den Unterdrückten überwindet. Ich will damit sagen, dass sowohl die weltweite Situation als auch die besondere Situation jedes Individuums Tag für Tag konfliktreicher werden wird. Angesichts dieser Tatsache wäre es Selbstmord, unsere Zukunft denen zu überlassen, die unser Schicksal bis heute in ihren Händen hielten. Wir leben nicht mehr in den Zeiten, in denen man die ganze Opposition ausschalten konnte, um am nächsten Tag zu verkünden: «Es herrscht Friede in Warschau». Es ist nicht mehr so, dass 10 Prozent der Bevölkerung frei über die restlichen 90 Prozent verfügen können. In diesem System, das weltweit immer geschlossener wird und in dem keine klar ausgerichtete Veränderung zu erkennen ist, ist alles abhängig von der blossen Anhäufung von Kapital und Macht. Das Resultat davon ist, dass man in einem geschlossenen System nichts anderes als die Mechanik einer wachsenden allgemeinen Unordnung erwarten kann. Das Paradoxon des Systems lehrt uns, dass der Versuch, Ordnung in eine wachsende Unordnung zu bringen, die Unordnung beschleunigt. Es gibt keinen anderen Ausweg, als das System zu revolutionieren, es für die Vielfältigkeit der menschlichen Bedürfnisse und Bestrebungen zu öffnen. Sieht man die Sache in diesem Licht, erhält das Thema ‹Revolution› eine ungewöhnliche Grösse und eröffnet Perspektiven, die es in vorangegangenen Epochen nicht haben konnte.

2. Von welcher Revolution sprechen wir?
Im letzten Brief haben wir den Standpunkt zur Arbeit gegenüber dem Grosskapital festgelegt, zur realen gegenüber der formalen Demokratie, zur Dezentralisierung gegenüber der Zentralisierung, zur Nicht-Diskriminierung gegenüber der Diskriminierung sowie zur Freiheit gegenüber der Unterdrückung. Wenn momentan das Kapital allmählich zu den Banken transferiert wird und die Banken dabei sind, sich der Firmen, der Länder, der Regionen und der Welt zu bemächtigen, dann beinhaltet die Revolution, sich der Banken zu bemächtigen, damit diese ihre Dienste anbieten, ohne als Gegenleistung Zinsen zu verlangen, die an sich Wucher sind. Wenn in einem Unternehmen davon ausgegangen wird, dass der Gewinn dem Kapital zukommt, während den Arbeitnehmern das Gehalt oder der Lohn zusteht, wenn in einem Unternehmen sowohl die Leitung als auch alle Entscheidungen in den Händen des Kapitals liegen, dann beinhaltet die Revolution, dass der Gewinn reinvestiert, zur Vergrösserung der produktiven Vielfalt oder zur Schaffung neuer Arbeitsplätze genutzt wird und dass die Geschäftsführung sowie alle Entscheidungen der Arbeit und dem Kapital paritätisch unterstehen. Wenn die Regionen oder Provinzen eines Landes an eine zentrale Entscheidungsmacht gefesselt sind, dann beinhaltet die Revolution, diese Macht so umzustrukturieren, dass die Regionen eine föderative Republik bilden und die Macht dieser Regionen wiederum gleichermassen zugunsten der kommunalen Basis dezentralisiert wird. Denn nur von dort kann eine gewählte Repräsentativität ausgehen. Wenn die Bevölkerung eines Landes nicht das gleiche Recht auf Gesundheit und Bildung hat, beinhaltet die Revolution, ein kostenloses Bildungs- und Gesundheitswesen für alle bereitzustellen, weil dies definitiv die zwei höchsten Werte der Revolution sind und durch sie das Paradigma der aktuellen Gesellschaft abgelöst werden muss, das auf Reichtum und Macht basiert.
Indem man alles in den Dienst von Gesundheit und Bildung stellt, werden die richtigen Rahmenbedingungen zur Lösung der komplexen wirtschaftlichen und technologischen Probleme unserer jetzigen Gesellschaft geschaffen werden. Wir sind der Meinung, dass bei umgekehrter Vorgehensweise keine Gesellschaft mit Entwicklungsmöglichkeiten entstehen kann. Das grosse Argument des Kapitalismus ist, alles in Zweifel zu ziehen, indem danach gefragt wird, woher die Mittel kommen sollen und inwiefern die Produktivität gesteigert wird. Damit gibt man zu verstehen, dass die Mittel aus Bankkrediten stammen und nicht aus der Arbeit des Volkes. Und ausserdem, wozu nützt die Produktivität, wenn sie später demjenigen aus den Händen gleitet, der produziert? Das Modell, das einige Jahrzehnte in manchen Teilen der Welt funktioniert hat und heute anfängt, auseinanderzufallen, bietet uns somit nichts aussergewöhnliches. Ob sich die Gesundheit und die Bildung in diesen Ländern auf wundersame Art verbessern, sollte man sich im Lichte der Zunahme von Epidemien anschauen, und zwar nicht nur der physischen, sondern auch der psychosozialen Epidemien. Wenn das Heranbilden eines autoritären, gewalttätigen und fremdenfeindlichen Menschen Teil der Bildung ist, wenn die Zunahme des Alkoholismus, der Drogensucht und der Selbstmordrate Teil des Fortschritts des Gesundheitswesens ist, dann ist dieses Modell nichts wert. Wir werden weiterhin den organisierten Bildungseinrichtungen sowie den gutausgestatteten Krankenhäusern unsere Bewunderung schenken. Ausserdem wird es aber unser Ziel sein, diese Einrichtungen uneingeschränkt in den Dienst der gesamten Bevölkerung zu stellen. Was den Inhalt und die Bedeutung von Gesundheit und Bildung angeht, gibt es noch mehr als genug mit dem aktuellen System zu diskutieren.
Wir sprechen von einer sozialen Revolution, die die Lebensbedingungen der Bevölkerung drastisch verändert, von einer politischen Revolution, die die Machtstruktur verändert. Letztendlich sprechen wir von einer menschlichen Revolution, die sich ihre eigenen Paradigmen schafft, welche die gegenwärtigen dekadenten Werte ersetzen. Die vom Humanismus angestrebte soziale Revolution führt über die politische Machtübernahme, um die entsprechenden Veränderungen zu verwirklichen, aber die politische Machtübernahme stellt kein Ziel in sich selbst dar. Im übrigen ist die Gewalt kein wesentlicher Bestandteil dieser Revolution. Was bringen abstossende Hinrichtungen und Inhaftierungen der Feinde? Wo läge da der Unterschied zu den ewigen Unterdrückern? Die antikolonialistische Revolution in Indien kam durch öffentlichen Druck und nicht durch Gewalt zustande. Es war zwar eine unvollendete Revolution - bedingt durch ihr beschränktes Gedankengut -, aber gleichzeitig zeigte sie eine neue Aktions- und Kampfmethode. Die Revolution gegen die iranische Monarchie wurde durch öffentlichen Druck entfesselt und nicht einmal durch die Übernahme der politischen Machtzentren, da sich diese bereits ‹aushöhlten›, destrukturierten, bis sie schliesslich aufhörten zu funktionieren... Bald darauf zerstörte die Intoleranz alles. Und so ist die Revolution auf verschiedene Weisen möglich, den Wahlsieg eingeschlossen. In jedem Fall muss aber sofort mit der drastischen Umwandlung der Strukturen begonnen werden, indem als erstes eine neue Rechtsordnung eingeführt wird. Diese muss, nebst anderen Fragen, die neuen gesellschaftlichen Produktionsbeziehungen eindeutig aufzeigen, welche jede Willkür verhindern und diejenigen althergebrachten Strukturen regeln, die noch verbesserungsfähig sind.
Die Revolutionen, die heute im Sterben begriffen sind, oder auch die neueren, die gerade im Entstehen sind, werden nicht darüber hinausgehen, innerhalb einer festzementierten Ordnung die Ablehnung zu manifestieren. Sie werden auch nicht über den organisierten Aufruhr hinausgehen, es sei denn, sie schreiten in die vom Humanismus vorgeschlagene Richtung voran, das heisst: in Richtung eines Systems von sozialen Beziehungen, deren zentraler Wert der Mensch ist und nicht irgend etwas anderes, wie z.B. die ‹Produktion›, ‹die sozialistische Gesellschaft› etc. Aber den Menschen als zentralen Wert zu setzen beinhaltet eine völlig andere Idee als das, was man sich heute unter ‹Mensch-Sein› vorstellt. Die aktuellen Verständnis-Schemata sind noch nicht in der Lage und besitzen noch nicht die nötige Sensibilität, um das Wesen des Menschlichen zu erfassen. Trotzdem - und das ist sehr bedeutend - zeichnet sich auch ein gewisses Comeback von kritischer Intelligenz ab, die nichts mit den von der oberflächlichen Naivität der Epoche akzeptierten Schemata zu tun hat. Bei G. Petrovi - um einen Fall zu erwähnen - finden wir bahnbrechende Ideen, die in die Richtung dessen gehen, was wir gerade dargelegt haben. Er definiert die Revolution als «die Schaffung einer essentiell anderen Seinsweise, die verschieden von allem nicht-menschlichen, anti-menschlichen und noch nicht vollständig menschlichen Sein ist.» Petrovi setzt schliesslich die Revolution der höchsten Form des Seins gleich, und zwar als Sein-in-Fülle und als Sein-in-Freiheit. (These über Die Notwendigkeit eines Revolutionskonzepts, 1977, und Die Philosophie und die Sozialwissenschaften, Kongress in Morelia, Mexiko, 1975.)
Die revolutionäre Woge, die als Ausdruck der Verzweiflung der unterdrückten Mehrheiten im Gang ist, wird sich nicht aufhalten lassen. Das alles wird aber noch nicht ausreichen, da die blosse Mechanik des ‹sozialen Engagements› alleine dem Prozess nicht die entsprechende Richtung geben wird. Mittels der Revolution vom Bereich der Notwendigkeit zum Bereich der Freiheit zu gelangen, ist der Imperativ dieser Epoche, in der der Mensch noch gefangen ist. Zukünftige Revolutionen müssen - wenn sie über Militärputsche, Palaststreiche, Forderungen von Klassen, Volksgruppen oder Religionen hinausgehen sollen - einen umwandelnden Charakter annehmen, indem sie das Wesentliche des Menschlichen grundlegend mit einschliessen. Davon ausgehend werden sie über die Veränderungen hinausgehen, die sie in den konkreten Situationen der Länder erzeugen. Ihr Charakter wird universell und ihr Ziel weltumfassend sein. Wenn wir also von ‹weltweiter Revolution› sprechen, verstehen wir darunter, dass jede humanistische Revolution oder jede Revolution, die sich in eine humanistische verwandelt, auch wenn sie sich in einem beschränkten Rahmen abspielt, von ihrem Charakter und ihrer Zielsetzung über sich selbst hinausweist. Eine solche Revolution wird, wenn auch der Ort, an dem sie stattfindet, noch so unbedeutend sein mag, die Wesentlichkeit jedes Menschen mit einbeziehen. Die weltweite Revolution kann man nicht an Erfolg oder Misserfolg messen, sondern nur an ihrer wirklich humanisierenden Dimension. Ausserdem wird der neue Revolutionär, der dieser neuen Art von Revolution entspricht, von seinem Wesen und seinem Handeln her zu jemandem, der die Welt menschlich macht.

3. Die Aktionsfronten im revolutionären Prozess
Nachfolgend möchte ich jetzt die praktischen Aspekte zur Schaffung der Grundvoraussetzungen für Einheit, Organisation und Wachstum einer entsprechenden sozialen Kraft erläutern, die einen revolutionären Prozess einleiten kann.
Die alte These bezüglich der sozialen Fronten, nämlich die der Versammlung fortschrittlicher Kräfte auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners, ist heute zur Strategie des ‹Zusammenkittens› von Meinungsverschiedenheiten in und zwischen den Parteien ohne Bezug zur gesellschaftlichen Basis geworden. Das Resultat ist, dass sich die Führungsspitzen, die ohnehin nur die Medien umschmeicheln und Wahlwerbung betreiben, in eine wachsende Kette von Widersprüchen verstricken. In Zeiten, in denen eine Partei mit ausreichenden finanziellen Mitteln die Aufspaltung beherrschen konnte, war der Weg der ‹Wahlfronten› gangbar. Heute hat sich die Situation drastisch verändert, und trotzdem propagiert die traditionelle Linke weiter diese Vorgehensweise, so als ob nichts geschehen wäre. Offensichtlich ist es nötig, die Aufgabe der Partei in der gegenwärtigen Situation zu überprüfen und sich zu fragen, ob die politischen Parteien diejenigen Strukturen sind, welche die Revolution in Gang setzen können. Denn wenn das System die Parteien vereinnahmt hat, indem es sie von einstigen Trägern einer sozialen Aktion in blosse ‹Hülsen› derselben verwandelt hat, die vom Grosskapital und den Banken kontrolliert werden, könnte sich eine Überpartei ohne menschliche Basis der formellen - nicht der realen - Macht annähern, ohne auch nur den Hauch einer grundlegenden Veränderung zu erzeugen. Die gegenwärtige politische Situation erfordert die Bildung einer Partei, die auf allen Ebenen Repräsentativität erreicht. Aber es muss vom ersten Augenblick an klar sein, dass diese Repräsentativität das Ziel hat, die Konflikte mit der etablierten Macht in Zusammenhang zu bringen. Deshalb ist ein Parteimitglied, das zum Volksvertreter gewählt wird, kein Staatsfunktionär, sondern ein sozialer Bezugspunkt. Seine Aufgabe besteht darin, die Widersprüche des Systems offenzulegen und den Kampf in Richtung der Revolution zu organisieren. Mit anderen Worten: Politische Arbeit, die innerhalb von Institutionen oder Parteien geleistet wird, ist als Ausdruck eines breiten sozialen Phänomens zu verstehen, das seine eigene Dynamik besitzt. So kann die Partei einerseits in Wahlkampfzeiten in Aktion treten, und andererseits können die verschiedenen Aktionsfronten, die ihr gelegentlich als Basis dienen, dieselbe Wahlkampfperiode nutzen, um Konflikte aufzuzeigen und ihre Organisation zu erweitern. Hier treten bedeutende Unterschiede zum traditionellen Parteienverständnis auf. Noch vor wenigen Jahrzehnten hielt man die Partei für die vorderste Front im sozialen Kampf und für den Motor der verschiedenen Aktionsfronten. Wir behaupten das Gegenteil: Es sind die Aktionsfronten, welche die Basis einer sozialen Bewegung bilden und entwickeln, während die Partei der institutionelle Ausdruck dieser Bewegung ist. Aufgabe der Partei ist es, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass sich weitere fortschrittliche politische Kräfte in diese Bewegung einfügen können, wobei es aber nicht in ihrer Absicht liegen darf, dass diese ihre Identität verlieren, indem sie völlig in der Partei aufgehen. Die Partei muss über ihre eigene Identität hinausgehen, indem sie eine breite Front bildet, die alle zersplitterten progressiven Kräfte mit einschliesst. Allerdings wird man nie über eine Vereinbarung zwischen den Spitzen hinauskommen, wenn die Partei keine wirkliche Basis hat, die diesen Prozess lenkt. Dieser Vorschlag ist nicht umgekehrt anwendbar auf die Integration der Partei in eine Front, die von anderen ‹Überbauten› organisiert wird. Zu einer politischen Front zusammen mit anderen Kräften wird es dann kommen, wenn diese die Bedingungen akzeptieren, welche die Partei, deren wirkliche Kraft durch die Organisation der Basis gegeben ist, stellt. Reden wir also über die verschiedenen Aktionsfronten.
Es ist notwendig, dass verschiedene Aktionsfronten ihre Aktivitäten an der Basis der staatlichen Verwaltungseinteilung entwickeln und auf die Kreise oder Gemeinden abzielen. In den so festgelegten Gebieten sollen Aktionsfronten an Arbeitsplätzen und in Wohngegenden gegründet werden. Die Aktivitäten dieser Fronten haben mit wirklichen Konflikten zu tun, die zuvor ihrer Priorität nach geordnet wurden. Das soll heissen, dass der Kampf für unmittelbare Forderungen keinen Sinn hat, wenn dabei kein organisiertes Wachstum und keine Ausrichtung für spätere Schritte entstehen. Es ist klar, dass jeder Konflikt in einen engen Bezug zum Lebensstandard, zur Gesundheit und zur Bildung der Bevölkerung gestellt werden muss (kohärenterweise müssen sich die Beschäftigten im Gesundheits- und Bildungswesen in enge Sympathisanten verwandeln und dann später in die nötigen Kader für die direkte Organisation der sozialen Basis).
Bei den Arbeitnehmerverbänden können wir das gleiche Phänomen wie bei den Parteien des Systems beobachten. Auch hier geht es nicht darum, die Kontrolle über Gewerkschaften oder Verbände zu erlangen, sondern in erster Linie um den Zusammenschluss der Beschäftigten. Die Folge eines solchen Zusammenschlusses wird die Entmachtung der traditionellen Gewerkschaftsführung sein. Jedes direkte Wahlsystem muss gefördert werden, ebenso wie jedes Plenum und jede Versammlung, deren Inhalt es ist, die Gewerkschafts- bzw. Verbandsführung dazu zu zwingen, Stellung zu konkreten Konflikten zu beziehen, so dass sie entweder den Forderungen der Basis nachgibt oder die Kontrolle über sie verliert. Auf jeden Fall müssen die Aktionsfronten im Verbandsbereich ihre Taktik entwerfen, indem sie auf ein Wachstum der Organisation der sozialen Basis abzielen.
Schliesslich ist der Aufbau von sozialen und kulturellen Basisorganisationen ein wichtiger Faktor. Dadurch schafft man für diskriminierte oder verfolgte Gruppen eine Möglichkeit, sich im Rahmen der Achtung der Menschenrechte zu versammeln, und gibt ihnen, trotz ihrer jeweiligen Unterschiede, eine gemeinsame Richtung. Die These, dass sich jede diskriminierte ethnische Gruppe, Gemeinschaft oder sonstige menschliche Gruppierung in sich selbst stärken muss, um sich gegen diese Ungerechtigkeit zu wehren, leidet an einer groben Fehleinschätzung. Diese Einstellung geht davon aus, dass die ‹Vermischung› mit fremden Elementen zu einem Identitätsverlust führt. In Wirklichkeit sind sie durch ihre Isolation erst recht gefährdet, da sie dadurch leichter vernichtet werden können. Oder aber sie radikalisieren sich dadurch dergestalt, dass die Verfolger eine leichte Rechtfertigung für ihr Tun finden. Die beste Überlebensgarantie für eine diskriminierte Minderheit ist es, Teil einer gemeinsamen Front zu werden, zusammen mit anderen, die den Kampf zur Durchsetzung ihrer Forderungen in die revolutionäre Richtung voranbringen. Schliesslich war es das globale System selbst, das die Bedingungen für diese Diskriminierung geschaffen hat, und diese Bedingungen werden so lange nicht verschwinden, bis diese gesellschaftliche Ordnung verändert wird.

4. Der revolutionäre Prozess und seine Richtung
Wir müssen zwischen revolutionärem Prozess und revolutionärer Richtung unterscheiden. Von unserem Standpunkt aus verstehen wir den revolutionären Prozess als Gesamtheit von mechanischen Bedingungen, die während der Entwicklung des Systems entstanden sind. In diesem Sinne erzeugt eine solche Entwicklung verschiedene Faktoren der Unordnung, die sich schliesslich entweder verlagern oder durchsetzen oder aber die Auflösung des ganzen Schemas bewirken. Die von uns durchgeführte Analyse ergab, dass die Globalisierung, auf die wir im Augenblick zusteuern, akute Anzeichen von Unordnung in der gesamten Entwicklung des Systems enthält. Es handelt sich dabei um einen Prozess, der unabhängig vom freiwilligen Handeln von Gruppen oder Individuen abläuft. Über diesen Punkt haben wir schon bei anderen Gelegenheiten gesprochen. Das Problem, das sich jetzt stellt, ist eben das der Zukunft des heutigen Systems, da dieses dazu neigt, sich ohne jegliche progressive Richtung mechanisch zu revolutionieren. So eine Richtung hängt von der menschlichen Absicht ab und unterliegt nicht der Determinierung der vom System geschaffenen Bedingungen. Schon vor geraumer Zeit haben wir unseren Standpunkt zur Nicht-Passivität des menschlichen Bewusstseins erläutert, sowie zu seiner wesentlichen Eigenschaft, keine blosse Spiegelung objektiver Bedingungen zu sein, zu seiner Fähigkeit, sich gegen solche Bedingungen aufzulehnen und sich eine zukünftige Situation zu entwerfen, die sich von der im gegenwärtigen Moment erlebten unterscheidet (hierzu verweisen wir auf den 4. Brief, Abschnitt 3 und 4, sowie auf den Essay Historiologische Diskussionen, Kapitel 3, Abschnitt 2 und 3, im Buch Beiträge zum Denken). Innerhalb dieser Art Freiheit, d.h. der Freiheit zur Wahl zwischen verschiedenen Bedingungen, liegt für uns die revolutionäre Richtung.
Mittels der Gewalt zwingt eine Minderheit der ganzen Gesellschaft ihre Bedingungen auf und errichtet eine Ordnung, ein Trägheitsystem, das sich ausbreitet und entwickelt. So gesehen ist folgendes klar: Sowohl die Produktionsweise als auch die daraus resultierenden sozialen Beziehungen, sowohl die Rechtsordnung als auch die vorherrschenden Ideologien, welche die besagte Ordnung regulieren und rechtfertigen, als auch der staatliche und parastaatliche Apparat, durch den die ganze Gesellschaft kontrolliert wird, entpuppen sich als Instrumente im Dienste der Interessen und Absichten einer fest etablierten Minderheit. Aber das System entwickelt sich mechanisch weiter, und zwar über die Absichten dieser Minderheit hinaus, die darum kämpft, die Instrumente der Macht und Kontrolle immer mehr bei sich zu konzentrieren. Dadurch bewirkt sie gerade eine erneute Beschleunigung in der Entwicklung des Systems, das immer mehr ihrem Einfluss entgleitet. So wird es zu einem Zusammenstoss der zunehmenden Unordnung mit der bestehenden Ordnung kommen, die sich genötigt fühlen wird, die entsprechenden Mittel zu ihrer Verteidigung einzusetzen. In kritischen Zeiten wird das System die Gesellschaft mit all der ihm zur Verfügung stehenden Härte der Gewalt disziplinieren. Und so kommt man zum letzten verfügbaren Mittel: der Armee. Aber ist es so sicher, dass die Armee in einem Moment, in dem sich das System auf einen globalen Kollaps zubewegt, auf herkömmliche Weise antworten wird? Sollte das nicht der Fall sein, ist die Wende in der Richtung der aktuellen Ereignisse das Thema der Diskussion. Es genügt, über das Ende der Zivilisationen, die der jetzigen vorangingen, nachzudenken, um zu erkennen, dass sich die Militärs gegen die etablierte Macht aufgelehnt haben. Sie haben sich in den Bürgerkriegen, die in der Gesellschaft schon vorprogrammiert waren, in verschiedene Lager geteilt, und da es ihnen nicht gelang, in dieser Situation eine neue Richtung anzugeben, entwickelte sich das System in seiner katastrophalen Richtung weiter. Erwartet die gegenwärtige weltweite Zivilisation, die sich im Moment herausbildet, das gleiche Schicksal? Im nächsten Brief werden wir wohl auf das Thema der Armeen eingehen müssen.

Empfangt mit diesem Brief einen herzlichen Gruss


Silo 7.8.93

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