Zehnter Brief an meine Freunde

Liebe Freunde,
welche Richtung nehmen die aktuellen Ereignisse? Die Optimisten erwarten eine weltweite Wohlstandsgesellschaft ohne soziale Probleme - eine Art Paradies auf Erden. Die Pessimisten deuten die aktuellen Symptome als Anzeichen einer sich verschlimmernden Erkrankung der Institutionen, der Menschengruppen, ja sogar des globalen Bevölkerungs- und Ökosystems - einer Art Hölle auf Erden. Diejenigen, die den historischen Ablauf hinterfragen, machen alle zukünftigen Geschehnisse von unserem aktuellen Verhalten abhängig: Himmel oder Hölle - wir bestimmen es durch unsere Handlungen. Natürlich gibt es auch noch diejenigen, denen völlig gleichgültig ist, was geschehen wird, solange es sie nicht persönlich betrifft.
Unter diesen so verschiedenen Ansichten interessiert uns diejenige, die die Zukunft von unserem heutigen Handeln abhängig macht. Doch auch hier gibt es unterschiedliche Aspekte. Einige sagen: Da die Krise von der Unersättlichkeit der Banken und multinationalen Konzerne verschuldet wurde, werden ebendiese Institutionen - sobald ein für ihre Interessen gefährlicher Punkt erreicht ist - Mechanismen in Gang setzen, um aus der Krise herauszukommen (wie es schon in der Vergangenheit geschehen ist). Bezüglich der Handlungen befürworten sie die schrittweise Anpassung an die Rekonversionsprozesse des Kapitalismus zum Vorteil der Mehrheiten. Andere hingegen weisen darauf hin, dass es nicht darum gehe, die ganze Situation vom Willen der Minderheiten abhängig zu machen, sondern vielmehr darum, den Willen der Mehrheit durch politische Aktionen und Aufklärung des Volkes auszudrücken, das vom herrschenden System erpresst wird. Diese Gruppen sagen, es werde eine allgemeine Krise des Systems kommen, und diese Situation, dieser Moment müsse für die Sache der Revolution genutzt werden. Dann gibt es noch jene, die sagen, dass alles - Kapital und Arbeit, Kultur, Länder und Völker, die Organisationsformen, die künstlerischen und religiösen Ausdrucksformen, Menschengruppen wie auch der einzelne - in einen Prozess der technologischen Beschleunigung und der Destrukturierung verwickelt sei. Es handle sich um einen langen historischen Prozess, der heute zur weltweiten Krise führe und alle politischen und wirtschaftlichen Modelle einbeziehe, von denen weder die allgemeine Zerrüttung noch die allgemeine Wiederherstellung abhängt. Die Vertreter dieser strukturellen Sichtweise beharren darauf, dass ein globales Verständnis dieser Phänomene nötig ist, während man aber gleichzeitig auf den kleinsten Gesellschaftsebenen, in der Gruppe oder im persönlichen Bereich, handelt. Angesichts der weltweiten Verflechtung verfechten sie keinen auf längere Sicht erstellten, allmählichen Erfolgsplan, sondern sie versuchen, eine Reihe von Beispiel-Effekten zu schaffen, die stark genug sind, um eine allgemeine Richtungsänderung des beschriebenen Prozesses zu bewirken. Folgerichtig heben sie die konstruktive Fähigkeit des Menschen hervor, die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Institutionen zu beeinflussen und ohne Unterlass dafür zu kämpfen, alle Umstände abzubauen, die im Begriff sind, einen unwiderruflichen Rückschritt zu bewirken. Wir sind Anhänger dieser letzten Haltung. Natürlich ist diese - wie auch die anderen - hier vereinfacht dargestellt worden, und viele weitere Varianten, die sich aus den einzelnen Haltungen ableiten, wurden umgangen.

1. Die Destrukturierung und ihre Grenzen
Es scheint angebracht, die Grenzen der politischen Destrukturierung aufzuzeigen, bedenkt man, dass diese nicht enden wird, bevor sie nicht die soziale Basis und somit das Individuum erreicht hat. Nehmen wir ein Beispiel: In einigen Ländern ist der Verlust der zentralisierten politischen Macht offensichtlicher als in anderen. Dank der Erstarkung der Autonomien oder dem Druck der Spaltungsbewegungen kommt es dazu, dass bestimmte Interessengruppen oder einfach nur Opportunisten den Prozess gerade da anhalten möchten, wo sie noch Kontrolle über die Situation hätten. Diesen Bestrebungen entsprechend müssten der abgespaltene Bezirk bzw. die vom ursprünglichen Land getrennte Republik oder das von der zentralen Macht befreite autonome Gebiet als die neue Organisationsstruktur weiterbestehen. Nun werden jedoch diese Mächte von den Mikroregionen - den Kommunen, den Gemeinden, den Bezirksvertretungen etc. - in Frage gestellt. Niemand sieht ein, warum ein von der zentralen Macht befreites Autonomiegebiet seinerseits wiederum die Macht über kleinere Einheiten zentralisieren sollte, wie sehr man auch Vorwände anführt, wie z.B. dieselbe Sprache, gemeinsames Brauchtum oder eine ‹historische und kulturelle Gemeinschaft›. Denn wenn es um Steuererhebungen und andere Finanzfragen geht, bleibt die Folklore lediglich dem Tourismus und den Plattenfirmen vorbehalten. Wenn die Gemeinden sich von der Autonomiemacht befreien, werden in der Folge die Stadtviertel dieselbe Logik anwenden. Und die Kette könnte weitergehen bis zu den Nachbarn, die nur durch eine Strasse voneinander getrennt sind. Jemand könnte sagen: «Warum sollten wir auf dieser Seite der Strasse dieselben Steuern zahlen wie die auf der anderen Seite? Wir haben einen höheren Lebensstandard, und mit unseren Steuern sollen die Probleme der anderen gelöst werden, die nicht aus eigener Kraft vorankommen wollen. Besser, jeder kommt mit seinen eigenen Mitteln aus.» Selbstverständlich könnte man in jedem Haus in der Nachbarschaft die gleichen Unmutsbezeugungen vernehmen - und niemand könnte diesen mechanischen Prozess gerade an dem Punkt anhalten, der ihn interessiert. Das bedeutet, dies alles würde nicht in einem einfachen Prozess der Lehnsherrschaft im Stile des Mittelalters gestoppt, der ermöglicht wurde durch eine kleinere und weiter auseinander lebende Bevölkerung und durch nur wenige Kommunikationsmöglichkeiten, die zudem von den sich streitenden Lehnsherrren und den Wegegeldeintreibern kontrolliert wurden. Die Situation auf dem Gebiet der Produktion, des Konsums, der Technologie, der Kommunikation, der Bevölkerungsdichte etc. ähnelt keiner Situation anderer Epochen.
Auf der anderen Seite gehen die Wirtschaftsregionen und -gemeinschaften daran, die Entscheidungsmacht der ursprünglichen Länder zu übernehmen. In einer Region könnten die Selbstverwaltungsgebiete die alte nationale Einheit umgehen, aber auch die Gemeinden oder Gemeindegruppen würden dann darangehen, die alten Verwaltungsebenen zu übergehen, ihre Aufnahme in den neuen, regionalen Überbau beantragen und ihre Teilnahme als vollwertige Mitglieder fordern. Jene Autonomien, Gemeinden und Gemeindegruppen mit starkem wirtschaftlichem Potential könnten von der regionalen Vereinigung ernsthaft in Betracht gezogen werden.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass im Wirtschaftskrieg zwischen den regionalen Blöcken einige Mitgliedsländer beginnen, ‹bilaterale und multilaterale› Verbindungen herzustellen und so die Umlaufbahn des regionalen Marktes, dem sie eigentlich angehören, zu verlassen. Warum sollte England z.B. keine engeren Beziehungen zur NAFTA Nordamerikas knüpfen, wodurch dieses Land zuerst eine Ausnahme innerhalb der EU darstellen würde? Und was würde dann verhindern, dass England sich - je nach Entwicklung der Geschäfte - in diesen neuen regionalen Markt einbindet und den anderen verlässt? Und wenn etwa Kanada einen Spaltungsprozess erlebt, was würde verhindern, dass Quebec Verhandlungen ausserhalb der NAFTA aufnimmt? In Südamerika könnten keine Organisationen wie die ALALC oder der Andenpakt weiterbestehen, wenn Kolumbien und Chile beginnen würden, ihre Wirtschaft mit Blick auf die Aufnahme in die NAFTA zusammenzuführen, die sie einem von möglichen Spaltungen in Brasilien berührten MERCOSUR vorziehen würden. Wenn auf der anderen Seite die Türkei, Algerien und andere Länder im südlichen Mittelmeerraum ihren Anschluss an die EU betreiben, werden wiederum andere, davon ausgeschlossene Länder ihre gegenseitige Annäherung verstärken, um gemeinsam in anderen geographischen Zonen zu agieren. Und was würde in diesem Zusammenhang mit den heutigen regionalen Blöcken passieren, mit Mächten wie China, Russland und Osteuropa, in Anbetracht ihrer schnellen zentrifugalen Umwandlungen?
Vielleicht geschieht alles nicht so wie in diesen Beispielen, aber die Regionalisierung kann unerwartete Wege beschreiten, und das Resultat kann ein Schema sein, das sich sehr von dem unterscheidet, welches wir heute auf der Grundlage geographischer Nachbarschaft besitzen, d.h. auf der Grundlage des alltäglichen geopolitischen Vorurteils. So kann es erneut Unordnung innerhalb der neuen Schemata geben, die nicht nur die wirtschaftliche Vereinigung, sondern auch die Bildung politischer und militärischer Blöcke als Ziel haben. Und da es schliesslich das Grosskapital sein wird, welches über die besten Entwicklungswege seiner Geschäfte entscheidet, dürfte sich niemand mehr Landkarten vorstellen können, in denen die Regionen entsprechend der geographischen Nachbarschaft angelegt sind, wo Autobahnen, Schienenwege und Funkverbindungen die Hauptdarsteller waren, die heute vom Flug- und Seeverkehr sowie durch die weltweite Satellitenkommunikation überholt worden sind. Schon zu Zeiten des Kolonialismus wurde die geographische Nachbarschaft ersetzt durch ein überseeisches Brettspiel grosser Mächte, das aber mit den Weltkriegen sein Ende fand. Für einige versetzt die heutige Neuanpassung das Problem in vorkoloniale Zeiten zurück. Dabei gehen sie davon aus, dass eine Wirtschaftsregion innerhalb räumlicher Nachbarschaft organisiert werden muss, wodurch ihr jeweiliger Nationalismus zu einer Art ‹Regionalismus› wird.
Zusammengefasst sagen wir: Die Grenzen der Destrukturierung ergeben sich weder durch die neuen selbständigen Länder oder die von einer zentralen Macht befreiten Autonomien im speziellen noch durch die auf der Grundlage der räumlichen Nachbarschaft organisierten Wirtschaftsregionen im allgemeinen. Die minimalen Grenzen der Destrukturierung erreichen den einfachen Nachbarn, das Individuum, und die maximalen die Weltgemeinschaft.

2. Einige wichtige Bereiche im Phänomen der Destrukturierung
Ich möchte von so vielen möglichen Bereichen der Destrukturierung drei herausstellen: den politischen Bereich, den religiösen und den der Generationen.
Es ist klar, dass die Parteien sich in der Besetzung der schon eingeschränkten Staatsmacht abwechseln werden, sie werden erneut als ‹Rechte›, ‹Mitte› und ‹Linke› auftauchen. Es wird auch in Zukunft viele ‹Überraschungen› darüber geben, welche verschwunden geglaubten Kräfte erneut auftauchen und welche seit Jahrzehnten fest etablierten Gruppierungen und Richtungen sich in allgemeinem Misskredit auflösen. Das ist nichts Neues im politischen Spiel. Das wirklich Neue ist, dass sich vermeintlich gegensätzliche Richtungen abwechseln werden können, ohne auch nur im geringsten etwas am destrukturierenden Prozess zu verändern, von dem sie selbstverständlich auch betroffen sind. Und in bezug auf Programme, Sprache und Stil der Politik werden wir eine allgemeine Verschmelzung beobachten können, in der die ideologischen Profile täglich verschwommener werden. In einem Kampf der leeren Phrasen und Formen wird sich der Durchschnittsbürger von jeder Teilnahme fernhalten, um sich auf das Unmittelbarste zu konzentrieren. Aber die soziale Unzufriedenheit wird immer spürbarer werden, u.a. durch spontane Aktionen, zivilen Ungehorsam, Unruhen und explosives Wachstum von psychosozialen Phänomenen. An diesem Punkt tritt der Neo-Irrationalismus gefährlich in Erscheinung, der, indem er sich die Intoleranz auf die Fahnen schreibt, die Führung übernehmen kann. In diesem Sinne ist es verständlich, dass, wenn die zentrale Macht versucht, die Unabhängigkeitsbestrebungen zu ersticken, die Positionen radikaler werden und somit die politischen Gruppierungen in ihren Einflussbereich ziehen werden. Welche Partei kann gleichgültig bleiben (mit dem Risiko, ihren Einfluss zu verlieren), wenn Gewalt auf Grund territorialer, ethnischer, religiöser oder kultureller Spannungen ausbricht? Die politischen Strömungen werden dazu Stellung beziehen müssen. Heute bestehen bereits Konflikte in Teilen Afrikas (18 Punkte mit Konflikten), in Amerika (Brasilien, Kanada, Guatemala, Nicaragua, ohne die Forderungen der indianischen Völkergemeinschaften in Ecuador und anderen südamerikanischen Ländern oder die Verschärfung des Rassenkonflikts in den Vereinigten Staaten mit einzubeziehen), in Asien (10 Punkte, den China-Tibet-Konfiikt einbezogen, aber ohne die wachsenden Differenzen zwischen einzelnen Kantonen in ganz China), in Südasien und im Pazifikraum (12 Punkte, die Forderungen der australischen Ureinwohner mitgezählt), in Westeuropa (16 Punkte), in Osteuropa (4 Punkte, Tschechien und die Slowakei getrennt genommen, Ex-Jugoslawien, Zypern und die Ex-Sowjetunion jeweils als einen Punkt gesehen, sonst könnte sich die Zahl der Konfliktpunkte auf 30 erhöhen, verschiedene Balkanländer und Länder der Ex-Sowjetunion mit Grenzstreitigkeiten und Konflikten zwischen Völkergemeinschaften bedenkend, in mehr als 20 Republiken über Osteuropa hinaus verteilt), im Nahen und Mittleren Osten (9 Punkte).
Die Politiker werden auch auf die Radikalisierungen der traditionellen Religionen reagieren müssen, wie z.B. auf die Konflikte zwischen Moslems und Hindus in Indien und Pakistan, zwischen Moslems und Christen in Ex-Jugoslawien und im Libanon, zwischen Hinduisten und Buddhisten in Sri Lanka. Sie werden in die Kämpfe zwischen Sekten eingreifen müssen, die derselben Religion angehören, wie in den Einflussbereichen des Islam zwischen Sunniten und Schiiten und im Einflussgebiet des Christentums zwischen Katholiken und Protestanten. Sie werden an der religiösen Verfolgung teilnehmen müssen, die im Westen durch die Medien und durch die Einführung von Gesetzen, die die Gebets- und Glaubensfreiheit einschränken, bereits begonnen hat. Es ist offensichtlich, dass die traditionellen Religionen Hetzjagd auf die neuen religiösen Erscheinungsformen auf der ganzen Welt machen werden. Laut den Schlauköpfen, normalerweise Atheisten, aber objektiv gesehen mit der herrschenden Sekte verbündet, stellt der Kampf gegen neue religiöse Gruppen «keine Beschränkung der Denkfreiheit dar, sondern einen Schutz der Glaubensfreiheit, die durch die Gehirnwäsche der neuen Sekten attackiert wird, die im übrigen die traditionellen Werte, die Kultur und die Lebensform der Zivilisation angreifen.» Auf diese Weise beginnen Politiker, die eigentlich nichts mit religiösen Themen zu tun haben, in dieser Orgie der Hexenjagden Partei zu ergreifen - u.a. weil sie die Massenpopularität kommen sehen, die diese neuen Glaubensformen mit revolutionärem Hintergrund erreichen werden. Sie werden nicht mehr wie im 19. Jahrhundert sagen können: «Religion ist Opium für das Volk», sie werden wohl nicht mehr vom Einschläfern des Volkes und des Individuums sprechen können, wenn die Moslems die Errichtung der islamischen Republik fordern; wenn der Buddhismus in Japan (seit dem Zusammenbruch der nationalen Shinto-Religion am Ende des Zweiten Weltkriegs) die Machtübernahme durch Komeito betreibt; wenn die katholische Kirche die Bildung neuer politischer Strömungen beabsichtigt, nach dem Verschleiss der christlich-sozialen Parteien und der von sozial engagierten Priestern inspirierten Dritte-Welt-Strömung in Lateinamerika und Afrika. Auf jeden Fall werden die atheistischen Philosophen der neuen Zeit ihre Begriffe ändern und das ‹Opium für das Volk› durch ‹Amphetamine für das Volk› ersetzen müssen.
Die Führungsspitzen werden auch Stellung nehmen müssen in bezug auf eine Jugend, die zu einer ‹grossen Risikogruppe› wird, weil ihr gefährliche Tendenzen zu Drogenkonsum, Gewalt und Kommunikations-Verweigerung zugeschrieben werden. Die Führungsspitzen, die die tiefen Wurzeln dieser Probleme weiter ignorieren wollen, sind nicht in der Lage, angemessene Antworten zu geben, da sie nur die Teilnahme an der Politik, den traditionellen Religionen oder den Angeboten der dekadenten, vom Geld geleiteten Gesellschaft empfehlen. Währenddessen wird die psychische Zerstörung einer ganzen Generation und die Entstehung neuer Wirtschaftsmächte erleichtert, die durch die Angst und das psychologische Verlassensein von Millionen Menschen niederträchtig gedeihen. Viele fragen sich jetzt, woher denn die wachsende Gewalttätigkeit bei Jugendlichen kommt, als wären es nicht die alten Generationen - und die, die heute an der Macht ist - gewesen, die eine systematische Gewalt vervollkommnet haben und dabei sogar wissenschaftliche und technologische Fortschritte genutzt haben, um ihre Manipulationen wirksamer zu machen. Manche entdecken etwas wie einen jugendlichen ‹Autismus›, und demzufolge könnte man eine Beziehung zwischen der verlängerten Lebenserwartung als Erwachsener und der längeren Zeit, die die Ausbildung der Jugend braucht, damit sie ernst genommen werden kann, sehen. Diese Erklärung gibt zwar Anhaltspunkte, ist aber unzureichend, wenn man umfassende Prozesse verstehen will. Man kann beobachten, dass die Dialektik der Generationen, Motor der Geschichte, vorläufig gehemmt ist - und damit hat sich ein gefährlicher Abgrund zwischen zwei Welten aufgetan. Hier muss daran erinnert werden, dass, wenn vor Jahrzehnten ein Denker vor diesen Tendenzen gewarnt hat, die sich heute schon als reale Probleme darstellen, die Bonzen und ihre Meinungsmacher jammerten und solche Reden beschuldigten, den Generationenkrieg heraufzubeschwören. Damals wurde eine mächtige Kraft der Jugend, die sich als Ankunft eines neuen Phänomens, aber auch als kreative Fortführung des historischen Prozesses hätte ausdrücken müssen, in die diffusen Forderungen der 60er Jahre abgeleitet und in einigen Gebieten ins Guerillatum getrieben. Wenn heute angestrebt wird, die neuen Generationen sollten ihre Verzweiflung in musikalische Spektakel und in die Fussballstadien lenken und sich darauf beschränken, ihre Forderungen durch Schriftzüge auf T-Shirts und durch Poster mit naiven Sprüchen auszudrücken, wird es neue Probleme geben. Diese Unterdrückung schafft Bedingungen für irrationale Entladungen, die geeignet sind, um von Faschisten, autoritären Personen und Gewalttätern jeder Art genutzt zu werden. Misstrauen gegenüber den Jugendlichen zu säen und in jedem Kind einen potentiellen Verbrecher zu sehen, verhindert den Dialog. Ausserdem scheint niemand daran interessiert, die neuen Generationen an den gesellschaftlichen Kommunikationsmedien zu beteiligen, niemand ist zur öffentlichen Diskussion dieser Probleme bereit - es sei denn, es handelt sich um ‹vorbildliche Jugendliche›, die eine von den Parteipolitikern vorgegebene Thematik in der Rockmusik wiedergeben oder sich als Pfadfinder betätigen, um Pinguine von Öl zu reinigen, ohne aber das Grosskapital als Verursacher der ökologischen Katastrophe anzuklagen! Ich fürchte, dass jede echte Jugendorganisation (sei sie von Arbeitern, Studenten, Künstlern oder religiös) der schlimmsten Gemeinheit verdächtigt wird, wenn sie nicht an eine Gewerkschaft, eine Partei, eine Stiftung oder eine Kirche angeschlossen ist. Bei soviel Manipulation wird man sich wohl weiter fragen, warum die Jugendlichen sich nicht an diesen wunderbaren Möglichkeiten beteiligen, die von der etablierten Macht zur Verfügung gestellt werden. Man wird dann weiter antworten, dass das Studium, die Arbeit und der Sport diesen zukünftig brauchbaren Bürgern keine Zeit übriglässt. Also darf sich niemand über die fehlende ‹Verantwortungsbereitschaft› so vielbeschäftigter Leute beklagen. Doch wenn die Arbeitslosigkeit weiter steigt, wenn die Rezession chronisch wird, wenn die Hilflosigkeit sich überall ausbreitet, werden wir sehen, wozu die heutige Nicht-Teilnahme führt. Aus verschiedenen Beweggründen (Kriege, Hungersnot, Arbeitslosigkeit, moralische Ermüdung) ist die Dialektik der Generationen destrukturiert worden. Es ist die Stille zweier langer Jahrzehnte entstanden, diese Ruhe, die von einem Schrei und von einer ziellosen zerstörerischen Aktion erschüttert werden wird.
Aus all dem oben Gesagten scheint klarzuwerden, dass niemand vernünftig die Prozesse einer Welt leiten kann, die sich auflöst. Diese Auflösung ist tragisch, aber sie ermöglicht auch die Geburt einer neuen Zivilisation, der Weltzivilisation. Wenn dies so ist, muss wohl auch eine Art kollektiver Mentalität in Auflösung begriffen sein, während eine neue Form, sich die Welt bewusstzumachen, entsteht. Dazu will ich hier vermerken, was im ersten Brief gesagt wurde: «Es entsteht eine den neuen Zeiten entsprechende Sensibilität. Eine Sensibilität, die die Welt als eine Globalität erfasst und die sieht, dass die Schwierigkeiten der Personen an jedwedem Ort letztendlich andere Personen mit einbeziehen, auch wenn sie sich weit voneinander entfernt befinden. Die Kommunikationsmittel, der Austausch von Gütern und die schnelle Wanderung vieler Menschen von einem Ort zum anderen zeigen diesen Prozess zunehmender weltweiter Verflechtung. Beim Verständnis der Globalität vieler Probleme tauchen neue Handlungskriterien auf, da man bemerkt, dass die Aufgabe jener, die eine bessere Welt wollen, wirksamer wird, wenn man diese Aufgabe in einem Umfeld sucht, auf den man irgendeinen Einfluss hat. Im Unterschied zu anderen Zeiten, die voll hohler Phrasen waren, mit denen man äussere Anerkennung erreichen wollte, beginnt man heute, die bescheidene und emotional empfundene Arbeit zu schätzen, mit der man nicht die eigene Person in den Vordergrund stellt, sondern sich selbst zu verändern sucht und dem unmittelbaren Umfeld - Familie, Arbeitskollegen, Freunden - zu helfen versucht, sich selbst zu verändern. Wer die Menschen wirklich gerne hat, wird diese bescheidene Arbeit kaum geringschätzen. Sie ist jedoch unverständlich für jeden Opportunisten, der in der alten Landschaft der Massenführer geprägt worden ist - einer Landschaft, in der er gelernt hat, andere für seinen gesellschaftlichen Aufstieg zu benutzen. Wenn jemand feststellt, dass der schizophrene Individualismus kein Ausweg mehr ist, und er all seinen Bekannten offen mitteilt, was er denkt und was er macht, ohne die lächerliche Angst, nicht verstanden zu werden; wenn er auf andere zugeht; wenn er sich für jeden einzelnen interessiert und nicht für die anonyme Masse; wenn er den Ideenaustausch und die gemeinsame Durchführung von Aufgaben fördert; wenn er deutlich darauf hinweist, dass es nötigt ist, diese Aufgabe der Kontaktwiederherstellung in einem sozialen Geflecht, das von anderen zerstört wurde, zu vervielfältigen; wenn er fühlt, dass auch die unbedeutendste Person von höherer menschlicher Qualität ist als jeder Schurke, der sich an der Spitze der heutigen Gesellschaft befindet... wenn dies geschieht, dann deshalb, weil in seinem Inneren wieder das Schicksal zu sprechen beginnt, das die Völker in die beste Richtung ihrer Entwicklung geführt hat. Dieses Schicksal, das so viele Male verdreht und vergessen wurde, das aber an den Wendepunkten der Geschichte immer wiedergefunden wurde. Man macht nicht nur eine neue Sensibilität aus, eine neue Handlungsweise, sondern überdies eine neue moralische Haltung und eine neue taktische Bereitschaft dem Leben gegenüber.»
Hunderttausende Menschen hängen heute den Ideen an, die im Humanistischen Dokument dargelegt werden. Es gibt die kommunistischen Humanisten, die sozialen Humanisten, die ökologischen Humanisten, die - ohne ihre eigenen Fahnen einzuziehen - einen Schritt in die Zukunft machen. Es gibt die, die für den Frieden kämpfen, für die Menschenrechte und gegen Diskriminierung. Selbstverständlich gibt es Atheisten und Leute, die an den Menschen und seine Unsterblichkeit glauben. Und ihnen allen ist die Leidenschaft für soziale Gerechtigkeit gemeinsam, für das Ideal der menschlichen Brüderlichkeit auf der Grundlage des Zusammenfliessens der Vielfalt, die Bereitschaft, über alle Vorurteile hinwegzugehen, eine zusammenhängende Persönlichkeit, in der das persönliche Leben nicht getrennt vom Kampf für eine neue Welt verläuft.

3. Die punktuelle Handlung
Es gibt immer noch politische Aktivisten, die sich darüber Sorgen machen, wer Premierminister, Präsident, Senator oder Abgeordneter wird. Möglicherweise verstehen sie nicht, auf welche Destrukturierung wir zusteuern und wie wenig die erwähnten ‹Hierarchien› angesichts der gesellschaftlichen Umwandlung bedeuten. Es gibt bestimmt auch einige Fälle, in denen diese Besorgnis in Verbindung mit der persönlichen Situation sogenannter Aktivisten steht, die um ihre Position innerhalb des politischen Geschäfts besorgt sind. Die Frage ist in jedem Fall, zu ergründen, wie die Konflikte in den Bereichen des täglichen Lebens, wo jeder seine Tätigkeiten entfaltet, einzuordnen sind, und zu wissen, wie man angemessene Aktionsfronten auf der Grundlage dieser Konflikte organisiert. Es muss klar werden, welche Charakteristiken die Arbeiter- und Studentenkommissionen, die Kommunikationszentren und Nachbarschaftsräte haben müssen. Wie kann man allen noch so kleinen Organisationen Teilnahmemöglichkeiten bieten, um ihr jeweiliges Anliegen - Arbeit, Kultur, Sport oder Religion - auszudrücken? Wenn wir uns auf das persönliche Umfeld der Leute beziehen - Arbeitskollegen, Verwandte und Freunde -, ist es von Nutzen, besonders die Orte zu erwähnen, wo sich diese Beziehungen entwickeln.
Um in räumlichen Begriffen zu sprechen: Die kleinste Handlungseinheit ist die Nachbarschaft, in der jeder Konflikt wahrgenommen wird, auch wenn seine Wurzeln weit entfernt liegen. Die Zentren direkter Kommunikation sind Treffpunkte der Nachbarschaft, an denen jedes wirtschaftliche und gesellschaftliche Problem sowie Fragen des Gesundheitswesens, der Erziehung und der Lebensqualität diskutiert werden. Das politische Engagement besteht darin, dieser Nachbarschaft Vorrang vor der Gemeinde, dem Bezirk, der Provinz oder Autonomie bzw. dem Land zu geben. In Wirklichkeit existierten schon lange, bevor Länder gebildet wurden, Menschengruppen, die sich niedergelassen haben und so zu Nachbarn wurden. Später wurden sie - in dem Masse, wie administrative Überstrukturen aufgebaut wurden - ihrer Autonomie und ihrer Macht beraubt. Aus diesen Nachbarschaften leitet sich jedoch die Legitimität einer gegebenen Ordnung ab, und von dort müssen auch die Vertreter einer wirklichen Demokratie kommen. Die Kommunalverwaltung muss in den Händen der Nachbarschaftskreise liegen, und deshalb kann man nicht vorschlagen, Abgeordnete und Repräsentanten verschiedener Ebenen aufzustellen, wie es in der Spitzenpolitik geschieht. Diese Aufstellung muss im Gegenteil Folge der Arbeit der organisierten, sozialen Basis sein. Das Konzept der ‹Nachbarschaftskreise› gilt genauso für eine grossflächig ausgedehnte Bevölkerung wie für jene in Stadtvierteln und Hochhäusern. In Zusammenarbeit zwischen Nachbarschaftskreisen wird die jeweilige Situation einer Gemeinde entschieden, und diese kann nicht umgekehrt in ihren Entscheidungen von einer Überstruktur abhängig sein, die Befehle gibt. In dem Moment, wenn die Nachbarschaftskreise einen humanistischen Aktionsplan für die Gemeinde in Gang setzen und diese Gemeinde oder Kommune ihre wirkliche Demokratie organisiert, wird der ‹Beispiel-Effekt› weit über die Grenzen dieser Bastion hinaus spürbar sein. Es kann sich nicht um eine allmähliche Entwicklung handeln, die schrittweise Land gewinnt, bis sie alle Winkel eines Landes erreicht hat, sondern es geht darum, in der Praxis zu zeigen, dass an einem Ort ein neues System funktioniert.
Aus dem oben Gesagten leiten sich zahlreiche Detailprobleme ab, deren Behandlung sich aber dem Rahmen dieses Briefes entzieht.

Empfangt mit diesem letzten Brief einen herzlichen Gruss


Silo, 15.12.93

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