Neunter Brief an meine Freunde

Liebe Freunde,
oft erhalte ich Briefe, in denen ich gefragt werde: «Was geschieht heute mit den Menschenrechten?» Ich persönlich bin nicht in der Lage, eine passende Antwort darauf zu geben. Ich glaube eher, jene, die die allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet haben, also die 160 Staaten der Erde, müssen wissen, was mit ihnen geschieht. Am 10. Dezember 1948 oder auch später unterzeichneten diese Staaten die Anerkennung jenes im Schosse der Vereinten Nationen ausgearbeitete Dokument. Alle verstanden, wovon es handelte, und alle verpflichteten sich, die verkündeten Rechte zu verteidigen. Ebenso wurde ein Vertrag von Helsinki unterschrieben, und die Länder bestimmten Vertreter für die Menschenrechtskommissionen und die internationalen Tribunale.

1. Menschenrechtsverletzungen
Wenn wir eine tagtägliche Chronik dessen aufstellen würden, was auf diesem Gebiet in letzter Zeit geschehen ist, müssten wir die Frage neu stellen und sie folgendermassen formulieren: «Was geschieht mit dem scheinheiligen Spiel der Regierungen bei ihrem Umgang mit den Menschenrechten?» Es würde genügen, den Berichten der Nachrichtenagenturen minimal zu folgen, auf die Zeitungen, Zeitschriften, Radiosender und das Fernsehen aufmerksam zu sein, um die Frage zu beantworten. Wir nehmen als Beispiel den letzten Bericht von Amnesty International (nur den von 1992) und legen zusammengefasst einige der dortigen Angaben dar.
Die Menschenrechtsverletzungen haben weltweit zugenommen, besonders in Katastrophengebieten wie im Jugoslawienkrieg und in Somalia. Es gab politische Gefangene in 62 Ländern; institutionelle Folter in 110 Ländern und von Regierungen durchgeführte politische Morde in 45 Ländern. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina hat klar Missbrauch und Massaker gezeigt, die von allen Parteien an Zehntausenden Menschen verübt wurden; sie wurden ermordet, gefoltert, dem Hungertod ausgesetzt, oft nur aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit. In anderen Punkten wie Tadschikistan und Aserbaidschan wurden dieselben Phänomene beobachtet. Die Klagen über Folter und schlechte Behandlung durch die Sicherheitskräfte haben in Deutschland, Frankreich, Spanien, Portugal, Rumänien und Italien beträchtlich zugenommen. In diesen Fällen spielte die Rasse der Opfer eine wichtige Rolle. Auch die bewaffneten Oppositionsgruppen in Grossbritannien, Spanien und der Türkei begingen schwere Menschenrechtsverletzungen. In den Vereinigten Staaten wurden 31 Menschen hingerichtet (die höchste Anzahl seit 1977, dem Jahr, in dem die Todesstrafe wiedereingeführt wurde). Tausende von unbewaffneten Zivilisten starben in diesem Zeitraum in Somalia. Sicherheitskräfte und ‹Todesschwadronen› ermordeten um die 4000 Menschen in Lateinamerika. In Venezuela erfolgten Dutzende von Festnahmen und Hinrichtungen von politischen Gefangenen in der Zeit, als die Verfassung ausser Kraft gesetzt war, nach den Putschversuchen vom 4. Februar und vom 27. November. In Kuba hielt man aus politischen Gründen um die 300 Personen gefangen, aber da internationalen Beobachtern von Amnesty die Einreise ins Land nicht gestattet wird, kann die Richtigkeit dieser Angaben nicht überprüft werden. In Brasilien hat die Polizei 111 Gefangene bei einem Gefängnisaufstand in São Paulo getötet, während in der gleichen Stadt sowie in Rio de Janeiro und anderen Punkten des Landes Hunderte von Kindern und andere ‹unerwünschte Personen› hingerichtet wurden. In Peru sind 139 Personen ‹verschwunden› und andere 65 wurden aussergerichtlich von den Sicherheitskräften hingerichtet. Es gab Berichte über allgemeine Misshandlungen in ländlichen Berggebieten, und um die 70 Personen wurden in irregulären Verhandlungen zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Die bewaffneten Oppositionsgruppen haben ebenfalls einige Dutzend Personen in verschiedenen Punkten dieses Gebietes ermordet. In Kolumbien wurden die wiederholten Anzeigen von Menschenrechtsverletzungen vom Präsidentenamt dementiert, indem es die Informationen oppositionellen Politikern zuschrieb, die daran interessiert gewesen seien, das Bild hinsichtlich der politischen Realität des Landes zu verfälschen. Indes meldete Amnesty, dass die Streitkräfte und die paramilitärischen Gruppen aussergerichtlich mindestens 500 Personen hingerichtet haben, während die bewaffneten Oppositionsgruppen und die Rauschgiftmafia um die 200 Personen ermordeten. Amnesty fügt hinzu, der Kampf gegen die islamischen Aktivisten habe zu einer Verschlechterung der Menschenrechtssituation in verschiedenen arabischen Ländern wie Algerien und Ägypten geführt. Folter, ungerechte Prozesse, politische Morde, ‹Verschwundene› und andere schwere Vergehen wurden von Regierungsagenten im ganzen Mittleren Osten begangen. In Ägypten ‹ermöglichte› die Verabschiedung einer neuen Gesetzgebung die Folter der politischen Gefangenen, und acht islamische Aktivisten, vermeintliche Anhänger einer bewaffneten Gruppe, wurden von einem Militärgericht «nach einer ungerechten Verhandlung» zum Tode verurteilt. In Algerien wurden nahezu 10000 Personen ohne Anschuldigung oder Prozess in isolierten Lagern in der Wüste eingeschlossen. Ihrerseits erklärten sich fundamentalistische Gruppen für Morde an Zivilisten und schwere Menschenrechtsverletzungen in Algerien und Ägypten verantwortlich, wie auch in den von Israel besetzten Gebieten. Die Festnahmen ohne Verhandlungen sind besonders in Syrien verbreitet, aber sie finden auch in Israel, Libyen, dem Irak, Kuwait, Saudi Arabien, Marokko und Tunesien statt. In China machte Amnesty auf die hohe Zahl von ‹Gewissensgefangenen› aufmerksam und darauf, dass politische Aktivisten ohne vorherige Gerichtsverhandlungen bestraft werden.
Presseagenturen verschiedenster Richtungen haben Weltkarten vorgelegt, auf denen man Dutzende Länder sieht, die vom Angriff auf die Menschenrechte gezeichnet sind, und andere, in denen Tote in religiösen Kriegen und Kriegen zwischen Völkergemeinschaften verbucht werden. Es erscheinen auch verschiedene Punkte, in denen Tausende von Menschen aufgrund der Hungersnot in ihren Heimatorten oder inmitten grosser Völkerwanderungen umgekommen sind.
Aber das oben Erwähnte schöpft weder das Thema der Menschenrechte, noch konsequenterweise die Verletzungen, die diese erfahren, aus.

2. Die Menschenrechte, der Friede und der Humanitarismus als Vorwand zur Intervention
Heute spricht man mit erneutem Nachdruck von den Menschenrechten. Jedoch haben sich die Vorzeichen derjenigen geändert, die diese Fahnen wehen lassen. In früheren Jahrzehnten arbeitete der Fortschritt aktiv für die Verteidigung von Grundsätzen, die durch Übereinstimmung zwischen den Nationen beschlossen wurden. Selbstverständlich gab es auch Diktaturen, die im Namen jener Rechte die Notwendigkeit der persönlichen und kollektiven Freiheit missbrauchten. Einige erklärten, solange das herrschende System nicht in Frage gestellt werde, würden die Bürger Zugang zu Wohnungen, Gesundheitswesen, Bildung und Arbeit haben. Logischerweise, so sagten sie, dürfe man Freiheit nicht mit Zügellosigkeit verwechseln, und ‹Zügellosigkeit› bedeutete, das Regime in Frage zu stellen.
Heute haben die Rechten diese Fahnen übernommen, und man sieht sie aktiv die Menschenrechte und den Frieden verteidigen, vor allem in jenen Ländern, die sie nicht ganz beherrschen. Indem sie einige internationale Mechanismen benutzen, organisieren sie Interventionskräfte, die in der Lage sind, jeden Punkt der Erdkugel mit dem Ziel, die ‹Gerechtigkeit› durchzusetzen, zu erreichen. Vordergründig bringen sie Medizin und Lebensmittel, um später mit Kanonen die Bevölkerung anzugreifen, wobei sie die Partei unterstützen, die sich ihnen am besten unterordnet. Bald kann jede fünfte Kolonne vorbringen, in ihrem Land sei der Friede gefährdet oder die Menschenrechte würden mit Füssen getreten, um die Hilfe der Interventionisten zu erbitten. In Wirklichkeit wurden die primitiven Verträge und gegenseitigen Verteidigungspakte durch Dokumente vervollkommnet, die die Aktion von ‹neutralen› Kräften legalisieren. So wird heute in modernisierter Form die alte Pax Romana wiedereingeführt. Kurzum, das sind die ornithologischen Wechselfälle des Schicksals, die mit dem Adler auf dem Banner der Legionäre begannen, später die Form der picassischen Taube annahmen, bis sie an den heutigen Tag gelangten, an dem aus ihrem Gefieder Klauen gewachsen sind. Sie kehrt nicht mehr zur biblischen Arche zurück, um einen Ölzweig zu bringen, sondern zur Arche der Werte mit einem Dollarschein in ihrem scharfen Schnabel.
Das Ganze wird dann angemessen mit weichen Argumentationen gewürzt. Und hier muss man vorsichtig sein: Auch wenn man in Drittländern aus humanitären Gründen, die für alle offensichtlich sind, interveniert, so schafft man auf diese Weise Präzedenzfälle, um neue Aktionen zu rechtfertigen, ohne so humanitäre Gründe, die auch nicht mehr für alle offensichtlich sind. Es muss darauf hingewiesen werden, dass als Konsequenz des Prozesses der weltweiten Verflechtung die Vereinten Nationen immer mehr eine militärische Rolle spielen, die nicht wenige Gefahren mit sich bringt. Einmal mehr wird die Souveränität und Selbstbestimmung der Völker durch die Manipulation der internationalen Friedens- und Solidaritätskonzepte gefährdet.
Lassen wir das Thema des Friedens für eine andere Gelegenheit, und schauen wir uns die Menschenrechte ein wenig näher an, die sich, wie wir alle wissen, nicht nur auf Fragen des ‹Gewissens›, der politischen Freiheit und der Freiheit der Meinungsäusserung beschränken. Die Sicherung dieser Rechte reduziert sich auch nicht nur darauf, Verfolgungen, Verhaftungen und den Tod der Bürger aufgrund ihrer Differenzen mit dem jeweiligen Regime zu vermeiden. Das heisst, sie beschränkt sich nicht nur auf den Schutz der Personen vor direkter physischer Gewalt, die man gegen sie verüben könnte. Zu diesem Punkt gibt es viel Verwirrung und ungeordnete Arbeit, aber einige grundlegende Ideen sind in der Erklärung enthalten.

3. Die anderen Menschenrechte
Das Dokument besagt im Artikel 2: «Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeine Unterscheidung wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen.» Und einige der verkündeten Rechte sind folgende: Artikel 23, §1: «Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit»; Artikel 25, §1: «Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden einschliesslich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet; er hat das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder von anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.» 
Die von den Mitgliedsstaaten unterzeichneten Artikel beruhen auf der Auffassung der Gleichheit und Allgemeingültigkeit der Menschenrechte. Weder im Geist noch in der detaillierten Darlegung der Erklärung sind Bedingungen enthalten wie: «...diese Rechte werden anerkannt, sofern sie die gesamtwirtschaftlichen Variablen nicht stören.» Oder aber: «...die genannten Rechte werden anerkannt, nachdem man eine Wohlstandsgesellschaft erreicht hat.» Trotzdem könnte man den Sinn der Darlegungen verdrehen, indem man sich auf Artikel 22 beruft: «Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit, er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Massnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen.» In diesem «...unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates» wird die wirksame Ausübung der Rechte geschwächt, und dies führt uns direkt zur Diskussion der Wirtschaftsmodelle.
Stellen wir uns ein Land mit genügend Organisation und Hilfsmitteln vor, das plötzlich zum Wirtschaftssystem der freien Marktwirtschaft übergeht. In dieser Situation wird der Staat dazu tendieren, ein einfacher ‹Verwalter› zu sein, während die Privatunternehmen sich um die Entwicklung ihrer Geschäfte kümmern. Die Haushalte für Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit werden fortschreitend gekürzt. Der Staat wird nicht mehr ‹Fürsorger› sein, und deshalb wird er keine Verantwortung für die Situation haben. Die Privatunternehmen müssen sich auch nicht um die Probleme kümmern, da die Gesetze, die sie dazu verpflichten könnten, diese Rechte zu schützen, geändert werden. Die Unternehmen werden selbst mit Hygiene- und Sicherheitsbestimmungen am Arbeitsplatz in einen Konflikt geraten. Aber die Idee und rettende Praxis der Privatisierung des Gesundheitswesens wird die Firma in die Situation bringen, die Lücke zu füllen, welche in der vorherigen Etappe des Übergangs entstanden ist. Dieses Schema wird sich in allen Bereichen in dem Masse wiederholen, wie die Privatisierung fortschreitet, die sich darum kümmern wird, ihre wirksamen Dienstleistungen jenen anzubieten, die sie bezahlen können, womit 20 Prozent der Bevölkerung ihre Bedürfnisse gedeckt haben werden. Wer wird also die Menschenrechte innerhalb der allgemeingültigen und gleichberechtigten Auffassung schützen, wenn diese ausgeübt werden «...unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates»? Es ist doch klar: «Je kleiner der Staat ist, desto blühender wird die Wirtschaft dieses Landes sein», so erklären es die Verfechter dieser Ideologie. Bei dieser Diskussionsweise wird man bald von der idyllischen Deklamation über den ‹allgemeinen Wohlstand› zur brutalen Ausdrucksform übergehen, die sich mit einem ultimativen Charakter darstellen wird, etwa: «Wenn die Gesetze das Kapital einschränken, wird dieses das Land verlassen, es werden keine Investitionen durchgeführt, es wird weder internationale Kredite noch Neufinanzierung von Altschulden geben, wodurch die Exporte und die Produktion zurückgehen werden, und so wird letztendlich die soziale Ordnung gefährdet.» So wird ganz einfach eines der vielen Erpressungsmuster offensichtlich. Wenn wir das, was wir gerade gesagt haben, aus der Situation eines Landes ableiten, das genügend Hilfsmittel für seinen Übergang zur freien Marktwirtschaft besitzt, so ist es einfach, sich die Verschlimmerung der Bedingungen vorzustellen, wenn es sich um ein Land handelt, das nicht die Grundvoraussetzungen an Organisation und Hilfsmittel erfüllt. So wie sich die Neue Weltordnung aufbaut und aufgrund der gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit wird das Kapital in allen (reichen oder armen) Ländern die universelle und gleichberechtigte Konzeption der Menschenrechte verletzen.
Die vorherige Diskussion kann nicht in streng grammatikalischem Sinne des Artikel 22 geführt werden, weil hier (so wie nirgendwo in der Erklärung der Menschenrechte) eine wirtschaftliche Bewertung über den Menschen gestellt wird, die seine Rechte relativiert. Es ist auch nicht legitim, ausweichende Argumente anzuführen, indem man erklärt, da die Wirtschaft die Grundlage der sozialen Entwicklung ist, müssen alle Kräfte den gesamtwirtschaftlichen Variablen gewidmet werden, damit, wenn einmal der Wohlstand erreicht ist, die Menschenrechte beachtet werden können. Das ist so plump engstirnig, wie zu sagen: «Da die Gesellschaft dem Gesetz der Schwerkraft unterworfen ist, ist es notwendig, sich auf dieses Problem zu konzentrieren, und wenn es gelöst ist, sprechen wir über die Menschenrechte.» In einer gesunden Gesellschaft kommt es den Bürgern nicht in den Sinn, auf unstabilem Grund zu bauen, da sie die Bedingungen der Schwerkraft voraussetzen, und genauso weiss alle Welt genau, welches die wirtschaftlichen Voraussetzungen sind und wie wichtig ihre korrekte Lösung in Funktion des menschlichen Lebens ist. Jedenfalls sind dies Überlegungen, die nicht zum zentralen Thema führen.
Die Betrachtung der Menschenrechte reduziert sich nicht auf diese letzten Fragen der Arbeit, Vergütung und Fürsorge, wie sie sich auch damals nicht auf die Bereiche der politischen Redefreiheit und der Gewissensfreiheit begrenzt haben. Wir haben einen Fehler in der Ausarbeitung der Erklärung hervorgehoben, aber trotzdem müssen wir darin übereinstimmen, dass eine gewissenhafte Anwendung der Artikel durch alle Regierungen reichen würde, damit diese Welt eine positive Veränderung von grosser Bedeutung erfahren würde.

4. Die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte und die kulturelle These
Es gibt verschiedene Auffassungen des Menschen, und dieser Verschiedenheit der Ansichten liegen oft die verschiedenen Kulturen zugrunde, von denen aus man die Wirklichkeit betrachtet. Eben Gesagtes berührt insgesamt die Frage der Menschenrechte. In der Tat erhebt sich heute, gegenüber der Idee eines universellen Menschen mit denselben Rechten und denselben Funktionen in allen Gesellschaften, die ‹kulturelle› These, die eine andere Position zu diesen Themen bezieht. So überlegen die Verfechter dieser Position, dass die vermeintlichen allgemeingültigen Rechte des Menschen nichts weiter sind als die Verallgemeinerung der Ansicht, die der Westen aufrechterhält und die eine ungerechtfertigte allgemeine Gültigkeit anstrebt. Nehmen wir zum Beispiel folgende Artikel: 16, §1: «Heiratsfähige Männer und Frauen haben ohne Beschränkung durch Rasse, Staatsbürgerschaft oder Religion das Recht, eine Ehe zu schliessen und eine Familie zu gründen. Sie haben bei der Eheschliessung, während der Ehe und bei deren Auflösung die gleichen Rechte»; 16, §2: «Die Ehe darf nur auf Grund der freien und vollen Willenseinigung der zukünftigen Ehegatten geschlossen werden»; 16, §3: «Die Familie ist die natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat.» Diese drei Abschnitte des Artikels 16 bringen zahlreiche Schwierigkeiten der Interpretation und Anwendung auf verschiedene Kulturen mit sich, angefangen im Nahen und Mittleren Osten bis nach Asien und Afrika. Das heisst, sie bringen dem grössten Teil der Menschheit Schwierigkeiten. In dieser so weiten und verschiedenartigen Welt stimmen nicht einmal die Ehe und die Familie mit den Massstäben überein, die für den Westen so ‹natürlich› erscheinen. Deshalb stehen diese Institutionen und die allgemeingültigen Menschenrechte, die sich auf diese beziehen, zur Diskussion. Dasselbe geschieht, wenn wir die Auffassung des Rechts im allgemeinen und der Justiz nehmen; wenn wir die Idee der Bestrafung des Verbrechers der Idee der Rehabilitation desjenigen, der das Recht bricht, gegenüberstellen, haben wir ein Thema, über das noch nicht einmal eine Übereinstimmung zwischen Ländern ein und desselben kulturellen Zusammenhangs besteht. Die Auffassung der eigenen Kultur als gültig für die gesamte Menschheit zu verteidigen, führt zu absolut grotesken Situationen. So betrachtet man in den Vereinigten Staaten das Abhacken der Hand eines Diebes, was in einigen arabischen Ländern legal praktiziert wird, als Verletzung der allgemeingültigen Menschenrechte, während man auf akademischer Ebene diskutiert, ob Blausäure, ein elektrischer Schlag von 2000 Volt, die Todesspritze, Hängen oder irgendein anderes makabres Vergnügen der Todesstrafe menschlicher ist. Aber es ist auch klar, genauso, wie in diesem Land ein grosser Teil der Bevölkerung die Todesstrafe ablehnt, gibt es an jenem anderen Ort zahlreiche Kritiker jeder Art von Körperstrafe des Beschuldigten. Der Westen selbst sieht sich durch die Veränderung von Gewohnheiten und Gebräuchen in Bedrängnis, wenn er seine traditionelle Idee der ‹natürlichen› Familie aufrechterhalten will. Kann heute eine Familie mit adoptierten Kindern existieren? Selbstverständlich. Können Familien existieren, in denen die Partnerschaft aus Mitgliedern des gleichen Geschlechts besteht? Einige Gesetzgebungen erkennen dies an. Was definiert also die Familie, ihren ‹natürlichen› Charakter oder die freiwillige Verpflichtung, bestimmte Funktionen zu erfüllen? Worin begründet sich die höhere Einschätzung der monogamen Familie einiger Kulturen gegenüber der polygamen oder polyandrischen anderer Kulturen? Wenn dies der Stand der Diskussion ist, kann man dann weiter von einem allgemeingültig anwendbaren Recht bezüglich der Familie sprechen? Welche werden die Menschenrechte sein und welche werden es nicht sein, die man für diese Institution schützen muss? Verständlicherweise kann die Dialektik zwischen der Allgemeingültigkeits-These (die nicht einmal auf ihrem eigenen Gebiet allgemeingültig ist) und der kulturellen These im Fall der Familie (die ich als eines von vielen möglichen Beispielen angeführt habe) nicht gelöst werden, und ich fürchte, sie kann auch in anderen Bereichen des sozialen Lebens nicht gelöst werden. Sagen wir es ein für allemal: Hier steht die umfassende Vorstellung des Menschen auf dem Spiel, die von allen sich streitenden Haltungen ungenügend begründet ist. Die Notwendigkeit dieser Auffassung ist offensichtlich, da sich weder das Recht im allgemeinen noch die Menschenrechte im besonderen durchsetzen können, wenn sie nicht in ihrer tieferen Bedeutung erklärt werden. Es geht nicht mehr darum, die allgemeinsten Fragen des Rechts abstrakt zu stellen. Es handelt sich entweder um Rechte, die, um Gültigkeit zu erlangen, von der etablierten Macht abhängen, oder um Rechte als Bestrebungen, die es zu erfüllen gilt. Hierzu haben wir bei einer anderen Gelegenheit gesagt («Das Gesetz», in «Die menschliche Landschaft» - Die Erde menschlich machen): «Praktische Leute haben sich nicht in theoretischen Betrachtungen verloren und erklärt, ein Gesetz sei notwendig für das Bestehen des sozialen Zusammenlebens. Auch wurde behauptet, dass das Gesetz gemacht wird, um die Interessen derer, die es durchsetzen, zu verteidigen. Es scheint, als sei es die bestehende Situation der Macht, die ein bestimmtes Gesetz aufstellt, das seinerseits die Macht legalisiert. Also ist das zentrale Thema die Macht, die eine - akzeptierte oder nicht akzeptierte - Absicht aufzwingt. Man sagt, dass Gewalt kein Recht erzeugt, aber diese Widersinnigkeit kann man akzeptieren, wenn man an Gewalt nur als eine brutale, physische Tatsache denkt. Aber eigentlich braucht die Gewalt (wirtschaftlich, politisch usw.) nicht unbedingt wahrnehmbar aufzutreten, um gegenwärtig zu sein und sich Respekt zu verschaffen. Andererseits zwingt selbst die physische Gewalt (z.B. die der Waffen) nur durch die reine Bedrohung, die sie darstellt, Zustände auf, die gesetzlich gerechtfertigt werden, und wir dürfen nicht verkennen, dass der Gebrauch der Waffen in der einen oder anderen Richtung von der menschlichen Absicht und nicht von einer bestimmten Rechtslage abhängt...» Und später: «Wer ein Gesetz verletzt, missachtet einen in der Gegenwart aufgezwungenen Zustand, wobei er seine Zeitlichkeit (seine Zukunft) den Entscheidungen anderer aussetzt. Aber es ist klar, dass jene ‹Gegenwart›, in der die Gültigkeit des Gesetzes beginnt, Wurzeln in der Vergangenheit hat. Um die Existenz des Gesetzes zu rechtfertigen, werden für gewöhnlich die Sitten, die Moral, die Religion und der soziale Konsens als Ursprünge angeführt. Jedes Gesetz hängt seinerseits von der Macht ab, die es durchgesetzt hat. Und die jeweils angeführten Ursprünge werden revidiert, wenn die Macht, die solche Gesetze ins Leben gerufen hat, zerfallen ist oder sich derart verändert hat, dass die Aufrechterhaltung der bisherigen Rechtsordnung gegen ‹das Vernünftige›, den ‹gesunden Menschenverstand› usw. zu verstossen beginnt. Wenn der Gesetzgeber ein Gesetz ändert oder eine Versammlung von Volksvertretern die Verfassung eines Landes ändert, wird das Gesetz anscheinend nicht verletzt, denn diejenigen, die diese Änderung vollziehen, sind nicht den Entscheidungen anderer ausgesetzt, da sie die Macht in ihren Händen halten oder als Vertreter einer Macht handeln. 
In dieser Situation wird klar, dass die Macht Rechte und Pflichten erzeugt und nicht umgekehrt.» Um das Zitat zu beenden: «Die Menschenrechte haben nicht die universelle Gültigkeit, die wünschenswert wäre, da sie nicht von der universellen Macht des Menschen abhängen, sondern von der Macht eines Teiles über das Ganze. Und wenn die grundlegendsten Forderungen nach Selbstbestimmung über den eigenen Körper auf allen Breitengraden mit Füssen getreten werden, können wir nur von Bestrebungen sprechen, die sich in Rechte verwandeln müssen. Die Menschenrechte gehören nicht der Vergangenheit an, sie sind in der Zukunft gegenwärtig. Von dort aus ziehen sie die Intentionalität an und nähren einen Kampf, der durch jede neue Verletzung der Bestimmung des Menschen wiederauflebt. Deshalb ist jede Forderung sinnvoll, die zu ihren Gunsten erhoben wird, weil sie den momentanen Machthabern zeigt, dass sie nicht allmächtig sind und nicht die Kontrolle über die Zukunft haben.»
Auf unsere allgemeine Auffassung des Menschen müssen wir hier nicht noch einmal zurückkommen, und wir müssen auch nicht erneut bestätigen, dass unsere Anerkennung der verschiedenen kulturellen Wirklichkeiten die Existenz einer gemeinsamen menschlichen Struktur im historischen Werden und in zusammenlaufender Richtung nicht ungültig macht. Der Kampf um die Gründung einer universellen menschlichen Nation ist auch der Kampf jeder Kultur für die Gültigkeit von Menschenrechten, die jedesmal präziser werden. Wenn in einer Kultur plötzlich das Recht auf ein erfülltes Leben und auf die Freiheit missachtet wird, indem über den Menschen andere Werte gestellt werden, geschieht dies, weil dort etwas auf Abwege geraten ist, etwas weicht vom allgemeinen Schicksal ab, und der Ausdruck dieser Kultur bezüglich diesem präzisen Punkt muss klar abgelehnt werden. Es ist richtig, dass wir unvollständige Formulierungen der Menschenrechte zur Verfügung haben, aber es ist im Moment das einzige, was wir in unseren Händen halten, um es zu verteidigen und zu vervollständigen. Diese Rechte werden heute als einfache Bestrebungen angesehen, und sie können angesichts des etablierten Machtgefüges nicht völlig rechtskräftig werden. Der Kampf für die vollkommene Umsetzung der Menschenrechte führt uns notwendigerweise dahin, die aktuellen Machthaber in Frage zu stellen, indem wir die Aktion auf den Ersatz dieser durch die Macht einer neuen menschlichen Gesellschaft richten.

Empfangt mit diesem Brief einen herzlichen Gruss


Silo, 21.11.93

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