Dritter Brief an meine Freunde

Liebe Freunde,
ich hoffe, dass dieser Brief dazu dient, meine Ansichten bezüglich der gegenwärtigen Situation zu ordnen und zu vereinfachen. Ich möchte auch gewisse Aspekte der Beziehung der Individuen untereinander sowie zwischen diesen und ihrem sozialen Umfeld zur Sprache bringen.

1. Die Veränderung und die Krise
In dieser Epoche der grossen Veränderungen befinden sich die Einzelpersonen, die Institutionen und die Gesellschaft in einer Krise. Die Veränderung wird immer schneller voranschreiten und ebenso die Krise der einzelnen Personen, der Institutionen und der Gesellschaft. Das kündigt Ungereimtheiten an, mit denen möglicherweise grosse Menschengruppen nicht umgehen können werden.

2. Die Desorientierung
Die stattfindenden Veränderungen schlagen unerwartete Richtungen ein und führen so, hinsichtlich der Zukunft und dem, was man in der Gegenwart tun sollte, zu einer allgemeinen Desorientierung. So ist es also nicht eigentlich die Veränderung, die uns verwirrt, da wir in ihr eine Vielzahl von positiven Aspekten feststellen können. Das, was uns beunruhigt, ist vielmehr die Unklarheit darüber, in welche Richtung die Veränderung geht und wohin wir unsere Handlungen ausrichten sollen.

3. Die Krise im Leben der Menschen
Die Veränderung findet in der Wirtschaft, in der Technologie und in der Gesellschaft statt, und vor allem wirkt diese Veränderung in unserem Leben: in unserem familiären Umfeld, in unserer Arbeit und in unseren Freundschaftsbeziehungen. Unsere Ideen verändern sich ebenso wie das, was wir über die Welt geglaubt haben, das, was wir über die anderen Personen geglaubt haben, und das, was wir über uns selbst geglaubt haben. Viele dieser Dinge stimulieren uns, aber andere verwirren und lähmen uns. Das Verhalten der anderen und das Verhalten von uns selbst erscheint uns unzusammenhängend, widersprüchlich und ohne eine klare Richtung, und das gleiche gilt für alles, was um uns herum geschieht.

4. Die Notwendigkeit, dem eigenen Leben eine Orientierung zu geben
Demzufolge ist es von grundlegender Bedeutung, dieser unvermeidlichen Veränderung eine Richtung zu geben, und es gibt keine andere Möglichkeit als die, bei sich selbst anzufangen. Es ist notwendig, dass in jedem selbst diese ungeordneten Veränderungen, deren zukünftige Entwicklung wir nicht kennen, eine Richtung verliehen bekommen.

5. Richtung und Veränderung der Situation
Da die Individuen nicht isoliert existieren, werden sich ihre Beziehungen zu den anderen in ihrer Familie, an ihrem Arbeitsplatz und überall dort, wo sie leben, dann verändern, wenn sie wirklich beginnen, ihr Leben neu auszurichten. Das ist aber kein psychologisches Problem, das in den jeweiligen Köpfen isolierter Individuen gelöst werden kann, sondern nur, indem man Situationen, die man mit anderen erlebt, durch ein zusammenhängendes Verhalten verändert. Wenn wir uns an unseren Erfolgen freuen oder wenn wir aufgrund von Misserfolgen niedergeschlagen sind, wenn wir Zukunftspläne machen oder uns dazu entschliessen, Veränderungen in unserem Leben zu verwirklichen, dann vergessen wir einen Punkt von grundlegender Bedeutung: Wir sind mit den anderen durch ein Beziehungsgefüge verbunden. Wir können das, was uns passiert, weder erklären noch können wir eine Wahl treffen, ohne dabei einen Bezug zu anderen Personen oder anderen, konkreten sozialen Bereichen herzustellen. Diese Personen, die für uns von besonderer Bedeutung sind, und dieses soziale Umfeld, in dem wir leben, versetzen uns in eine bestimmte Situation, von der aus wir denken, fühlen und handeln.
Das zu leugnen oder zu ignorieren bringt enorme Schwierigkeiten mit sich. Unsere Wahl- und Handlungsfreiheit ist durch die Situation, in der wir leben, eingeschränkt. Jede Veränderung, die wir durchführen möchten, kann nicht in abstrakter Form in Betracht gezogen werden, sondern muss Bezug nehmen auf die Situation, in der wir leben.

6. Das zusammenhängende Verhalten
Wenn wir in die gleiche Richtung sowohl denken als auch fühlen und handeln könnten, wenn das, was wir machen, keinen Widerspruch zu dem, was wir fühlen, erzeugen würde, dann könnten wir behaupten, dass unser Leben einen Zusammenhang, eine Kohärenz hat. Wir wären für uns selbst vertrauenswürdig, wenn auch nicht unbedingt für unser persönliches Umfeld. Wir müssten diese gleiche Kohärenz auch mit den anderen erreichen, indem wir sie so behandeln, wie wir selbst behandelt werden möchten. Wir wissen, dass es eine Art zerstörerische Kohärenz geben kann, wie wir das im Fall der Rassisten, Ausbeuter, Fanatiker oder Gewalttätigen beobachten können, aber es ist klar, dass sie in der Beziehung nicht konsequent sind, da sie die anderen auf eine ganz andere Art behandeln, als sie selbst gerne behandelt werden wollen.
Diese Einheit hinsichtlich Denken, Fühlen und Handeln und diese Einheit zwischen dem, wie man von anderen behandelt zu werden erwartet, und dem, wie man den anderen behandelt, sind Ideale, die im täglichen Leben so nicht verwirklicht werden. Das ist der springende Punkt: Es geht um eine Korrektur der Verhaltensweisen, angepasst an diese Vorschläge. Es handelt sich um Werte, die, unabhängig von den Schwierigkeiten, die auftauchen können, wenn man versucht, sie zu verwirklichen, dem Leben eine Richtung geben können, vorausgesetzt, man nimmt sie ernst. Wenn wir die Dinge richtig betrachten, nämlich nicht statisch, sondern in Dynamik, werden wir das als eine Strategie verstehen, die im Lauf der Zeit immer mehr an Boden gewinnen muss. Hier zählen durchaus die Absichten, auch wenn zu Beginn die Handlungen noch nicht mit ihnen übereinstimmen, vor allem dann, wenn diese Absichten aufrechterhalten, vervollkommnet und verstärkt werden. Diese Vorstellungen von dem, was man erreichen will, sind unerschütterliche Bezugspunkte, die in jeder Situation eine Richtung angeben können. Und das, was wir sagen, ist gar nicht so kompliziert. Es überrascht uns z.B. nicht, dass eine Person ihr Leben darauf ausrichtet, grossen Reichtum zu erlangen, selbst wenn sie von vornherein weiss, dass es ihr nicht gelingen wird. Aber ihr Ideal gibt ihr auf alle Fälle Antrieb, auch wenn sie keine nennenswerten Resultate verbuchen kann. Warum kann man also nicht verstehen, dass solche Lebensideale den menschlichen Handlungen eine Richtung verleihen können, trotz der Tatsache, dass diese Epoche den Einklang der Behandlung, die man für sich beansprucht, mit der, die man den anderen zukommen lässt, nicht gerade fördert, und trotz der Tatsache, dass diese Epoche dem Denken, Fühlen und Handeln in dieselbe Richtung entgegenwirkt?

7. Die zwei Vorschläge
Diese beiden Vorschläge: in die gleiche Richtung zu denken, zu fühlen und zu handeln, und: die anderen so zu behandeln, wie man gerne selbst behandelt werden möchte, sind so einfach, dass sie von den Leuten, die an Komplikationen gewöhnt sind, leicht als simpel und naiv angesehen werden können. Trotzdem, hinter dieser scheinbaren Naivität steckt eine neue Werteskala, an deren Spitze der Zusammenhang steht; eine neue Moral, für die keine Art von Handlung gleichgültig ist, und ein neues Streben, das beinhaltet, sich konsequent zu bemühen, den menschlichen Ereignissen eine Richtung zu geben. Hinter dieser scheinbaren Naivität entscheidet man sich für einen Sinn im persönlichen und im sozialen Leben, der entweder wirklich evolutionär ist oder aber in Richtung einer weiterreichenden Auflösung führt. Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass die alten Werte den Menschen in einem sozialen Gefüge, das durch zunehmendes Misstrauen, durch Isolation und Individualismus Tag für Tag weiter zerfällt, Kohärenz verleihen. Die alte Solidarität zwischen den Angehörigen einer gleichen Klasse, Vereinigung, Institution oder Gruppe wird von einer brutalen Konkurrenz ersetzt, vor der selbst der Partner oder die Familienangehörigen nicht verschont bleiben. In diesem zerstörerischen Prozess kann keine neue Solidarität auf der Grundlage von Ideen und Verhaltensweisen, die aus einer vergangenen Welt stammen, entstehen, sondern nur durch die konkrete Notwendigkeit eines jeden, seinem Leben eine Richtung zu verleihen, weswegen er gleichzeitig sein Umfeld verändern muss. Wenn diese Veränderung tief und ehrlich sein soll, dann kann sie nicht per Verordnung, durch äusserliche Gesetze oder durch Fanatismus irgendwelcher Art in Gang gesetzt werden, sondern nur durch die Kraft der Ideen und der kleinsten Handlungen, die man gemeinsam mit den Leuten aus unserem Umfeld durchführen.

8. Ausgehend vom persönlichen Umfeld die ganze Gesellschaft erreichen
Wir wissen, dass wir unser Umfeld beeinflussen werden, wenn wir unsere Situation positiv verändern. Als Folge davon werden andere Leute beginnen, unsere Meinung zu teilen, und so wird ein System von wachsenden menschlichen Beziehungen entstehen. Wir werden uns fragen müssen: Warum sollten wir weiter gehen als bis dort, wo wir begonnen haben? Ganz einfach aufgrund der Kohärenz mit dem Vorsatz, die anderen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Oder bringen wir vielleicht den anderen nicht das nahe, was für unser eigenes Leben ausschlaggebend war? Wenn der Einfluss zu wachsen beginnt, dann deshalb, weil die Beziehungen, und infolgedessen die Bestandteile unseres Umfelds, sich ausgeweitet haben. Das ist eine Sache, die wir von Anfang an in Betracht ziehen müssen, denn auch wenn unsere Handlung an einem spezifischen Punkt zu wirken beginnt, kann die Projektion dieses Einflusses sehr weitreichend sein. Es erscheint so nicht verwunderlich, wenn andere Personen sich entschliessen, dieselbe Richtung einzuschlagen. Schliesslich und endlich sind alle grossen geschichtlichen Bewegungen dem gleichen Schema gefolgt: Sie begannen klein, das ist logisch, und haben sich entwickelt, da die Leute sie als Interpreten ihrer Bedürfnisse und Bestrebungen betrachtet haben.
Es stimmt mit all dem vorher Gesagten überein, im persönlichen Umfeld zu handeln, wobei der Blick gleichzeitig auf den Fortschritt der Gesellschaft gerichtet sein muss. Wenn das nicht so wäre, wenn alles in isolierten Individuen enden würde, für die die anderen unwichtig sind, warum sollten wir dann auf die globale Krise, der man mit Entschlossenheit die Stirn bieten muss, verweisen? Eben aufgrund eines menschlichen Bedürfnisses, das darin übereinstimmt, dem eigenen Leben und den Ereignissen eine neue Richtung zu verleihen, werden Bereiche zur Diskussion und zur direkten Kommunikation entstehen. Später wird die Verbreitung mittels aller Medien erlauben, eine breitere Kontaktfläche anzusprechen. Selbiges wird durch die Entstehung von Organismen und Einrichtungen geschehen, die mit dieser Auffassung übereinstimmen.

9. Das Umfeld, in dem man lebt
Wir haben schon erwähnt, dass die Veränderung so schnell und unerwartet stattfindet, dass dieser Einbruch als eine Krise empfunden wird, in der sich ganze Völker, Institutionen und auch einzelne Personen befinden. Deshalb ist es unerlässlich, den Ereignissen eine Richtung zu geben. Aber kann man so etwas machen, wenn man doch selbst den Auswirkungen übergeordneter Ereignisse unterliegt? Es ist offensichtlich, dass man nur unmittelbaren Aspekten seines Lebens eine Richtung geben kann, aber weder den Institutionen noch der Gesellschaft. Dem eigenen Leben eine Richtung zu geben ist wiederum kein leichtes Unterfangen, da jeder in einer Situation lebt, d.h. nicht isoliert ist; er lebt in einem Umfeld. Dieses Umfeld kann so umfassend sein wie das Universum, die Erde, das Land, die Stadt etc. Trotzdem gibt es ein persönliches Umfeld, in dem wir unsere Tätigkeiten entfalten. Zu diesem Umfeld gehören die Familie, der Arbeitsplatz, die Freunde usw. Wir leben in einer bestimmten Situation in bezug auf andere Menschen, und das ist unsere besondere Welt, auf die wir nicht verzichten können. Sie beeinflusst uns unmittelbar und wir sie ebenfalls. Wenn wir überhaupt einen Einfluss haben, dann eben auf dieses persönliche Umfeld. Aber es geschieht, dass sowohl der Einfluss, den wir ausüben, als auch der, dem wir unterliegen, ihrerseits den Auswirkungen umfassenderer Situationen unterliegen, nämlich der Krise und der Orientierungslosigkeit.

10. Die Kohärenz als Lebensrichtung
Wenn man den Ereignissen eine Richtung geben wollte, dann müsste man mit dem eigenen Leben anfangen. Dazu müssten wir das Umfeld, in dem wir handeln, berücksichtigen. Aber was für eine Richtung können wir anstreben? Ohne Zweifel die, die uns bei einer so veränderlichen und unberechenbaren Umgebung Zusammenhang und Halt gibt. In dieselbe Richtung zu denken, zu fühlen und zu handeln ist ein Vorschlag, der unserem Leben Zusammenhang gibt. Das ist jedoch nicht leicht, da wir uns in einer Situation befinden, die wir nicht ganz gewählt haben. Wir machen Sachen, die wir machen müssen, obwohl das nicht im geringsten mit dem übereinstimmt, was wir denken und fühlen. Wir befinden uns in Situationen, die wir nicht beherrschen. Zusammenhängend zu handeln ist eher eine Absicht als eine Tatsache; eine Tendenz, die wir im Hinterkopf haben können, damit unser Leben sich nach dieser Art von Verhalten orientiert. Es ist offensichtlich, dass wir unsere Situation nur dann teilweise ändern können werden, wenn wir Einfluss auf dieses Umfeld ausüben. Wenn wir das tun, sind wir dabei, der Beziehung mit anderen eine Richtung zu geben, und so werden auch andere solch ein Verhalten übernehmen. Wenn man dem entgegenhält, dass manche Personen wegen ihrer Arbeit oder aus anderen Gründen ihr Umfeld oft wechseln, so werden wir antworten, dass dies nicht im geringsten unseren Vorschlag verändert, da man ja immer in einer Situation, in einem bestimmten Umfeld sein wird.
Wenn wir den Zusammenhang, die Kohärenz anstreben, muss die Behandlung der anderen so sein, wie wir es für uns beanspruchen. Also finden wir in diesen zwei Vorschlägen die grundlegenden Bestandteile einer Richtungsgebung, und zwar so weit, wie unsere Kräfte reichen. Die Kohärenz schreitet dann voran, wenn das Denken, Fühlen und Handeln in dieselbe Richtung voranschreiten. Dieses zusammenhängende Verhalten schliesst andere Menschen mit ein, denn es gibt keine andere Form, es umzusetzen, und da die anderen miteingeschlossen werden, fangen wir an, sie so zu behandeln, wie wir selbst behandelt werden möchten. Kohärenz und Solidarität sind Richtungen, Bestrebungen nach Verhaltensweisen, die man erreichen möchte.

11. Ausgewogene Handlungen als Fortschritt in Richtung der Kohärenz
Wie kann man in Richtung der Kohärenz voranschreiten? An erster Stelle werden wir eine gewisse Ausgewogenheit bei unserem täglichen Handeln erreichen müssen. Es ist notwendig, festzustellen, welche die wichtigsten Angelegenheiten bei unserer Tätigkeit sind. Wir müssen das als Priorität setzen, was grundlegend ist, damit die Dinge überhaupt laufen; dann kommt das Zweitrangige und so weiter. Wenn wir auf zwei oder drei Prioritäten achten, werden wir möglicherweise vor einer überschaubaren Situation stehen. Die Prioritäten sollten nicht vertauscht werden; sie sollten auch nicht so weit auseinanderlaufen, dass sie unsere Situation aus dem Gleichgewicht bringen. Die Dinge sollten gemeinsam laufen und nicht vereinzelt, wobei vermieden werden soll, dass manche sich übertrieben weiterentwickeln, während andere nicht Schritt halten können. Oft lassen wir uns von der Wichtigkeit einer Tätigkeit blenden, und dadurch gerät die Gesamtheit aus dem Gleichgewicht... und am Ende kann das, was wir für so wichtig hielten, auch nicht verwirklicht werden, weil unsere Gesamtsituation beeinträchtigt wurde. Es stimmt zwar auch, dass wir manchmal vor dringenden Angelegenheiten stehen, um die wir uns kümmern müssen, aber es ist offensichtlich, dass man andere Dinge, die die Aufrechterhaltung der allgemeinen Lebenssituation betreffen, nicht ewig hinausschieben kann. Prioritäten zu setzen und die Tätigkeiten in angemessenem Verhältnis zueinander zu entwickeln, bedeutet, einen deutlichen Schritt in Richtung der Kohärenz zu machen.

12. Die Gelegenheit der Handlungen als Fortschritt in Richtung der Kohärenz
Es besteht eine tägliche Routine, die von den Tagesplänen, den privaten Besorgungen und der allgemeinen Tätigkeit unseres Umfelds bestimmt ist. Innerhalb dieser ‹Vorgaben› gibt es jedoch eine Dynamik und eine Fülle von Ereignissen, die die oberflächlichen Leute nicht zu schätzen wissen. Manche verwechseln ihr Leben mit der Routine, aber das ist keineswegs so, da sie sehr oft zwischen den Bedingungen, die ihnen das Umfeld aufzwingt, wählen müssen. Gewiss leben wir mitten in Schwierigkeiten und Widersprüchen, aber es wird sinnvoll sein, beide Begriffe nicht zu verwechseln. Unter ‹Schwierigkeiten› verstehen wir die Unannehmlichkeiten und Hindernisse, mit denen wir konfrontiert werden. Die sind zwar nicht wahnsinnig ernst, wenn sie aber zahlreich sind und wiederholt auftreten, dann lassen sie unsere Gereiztheit und Ermüdung grösser werden. Allerdings sind wir in der Lage, sie zu überwinden. Sie bestimmen nicht die Richtung unseres Lebens; sie verhindern nicht, dass wir unser Vorhaben umsetzen. Es sind Hindernisse auf unserem Weg, die von der kleinsten körperlichen Schwierigkeit bis hin zu Problemen, bei denen wir drauf und dran sind, die Richtung zu verlieren, reichen. Zwar lassen die Schwierigkeiten eine sehr breite Abstufung zu, sie halten sich aber in Grenzen, so dass sie uns bei unserem Voranschreiten nicht behindern. Etwas anderes geschieht mit dem, was wir ‹Widersprüche› nennen. Wir sind vom Widerspruch gefangen, wenn unser Projekt nicht verwirklicht werden kann, wenn die Ereignisse uns in eine entgegengesetzte Richtung statt in die gewünschte zwingen, wenn wir uns in einem Teufelskreis bewegen, den wir nicht sprengen können, wenn wir unserem Leben nicht wenigstens minimal eine Richtung geben können. Der Widerspruch ist eine Art Umkehrung der Lebensströmung, die uns hoffnungslos zum Zurückschreiten bringt. Wir beschreiben gerade den Fall, in dem die Zusammenhanglosigkeit am härtesten in Erscheinung tritt. Beim Widerspruch stehen unser Denken, unser Fühlen und unser Handeln zueinander im Gegensatz. Trotzdem gibt es immer eine Möglichkeit, dem Leben eine Richtung zu geben. Man muss nur wissen, wann man dies machen kann.
Die Gelegenheit bei den Handlungen ist etwas, was wir bei der Alltagsroutine nicht berücksichtigen. Das passiert, weil es viele Verhaltensmuster gibt. Aber bezüglich der wichtigen Schwierigkeiten und der Widersprüche dürfen die von uns zu fällenden Entscheidungen nicht zu einer Katastrophe führen. Im allgemeinen sollten wir vor einer grossen Kraft zurückweichen und mit Entschlossenheit voranschreiten, wenn sie schwächer wird. Es gibt einen grossen Unterschied zwischen dem ‹Angsthasen›, der vor jeglicher Schwierigkeit zurückweicht oder wie gelähmt verharrt, und dem, der durch sein Handeln die Oberhand über die Schwierigkeiten gewinnt, indem er sich dessen bewusst ist, dass er gerade beim Voranschreiten diese Schwierigkeiten überwinden kann. Manchmal ist es nicht möglich, voranzuschreiten, da wir vor einem Problem stehen, das unsere Kräfte übersteigt, und ein unüberlegter Ansturm verhängnisvoll für uns sein könnte. Das grosse Problem, das es zu lösen gilt, befindet sich auch in Dynamik, und das Kräfteverhältnis wird sich dadurch ändern, indem entweder wir an Einfluss gewinnen oder der Einfluss des Problems abnimmt. Wenn das anfängliche, ungünstige Verhältnis sich umgekehrt hat, dann ist der Moment gekommen, mit Entschlossenheit zu handeln, da eine Unentschlossenheit oder ein Zögern zur erneuten Änderung des Kräfteverhältnisses führen würde.
Die Durchführung der geeigneten Handlung ist das beste Werkzeug, um Richtungsänderungen herbeizuführen.

13. Die wachsende Anpassung als Voranschreiten in Richtung der Kohärenz
Betrachten wir das Thema der Richtung, der Kohärenz, die wir anstreben. Mit diesem Vorschlag wird das ‹Sich-an-bestimmte-Situationen-Anpassen› zu tun haben, denn es würde zu einer grossen Zusammenhanglosigkeit führen, wenn wir uns dem anpassen würden, was in eine der Kohärenz entgegengesetzte Richtung führt. Die Opportunisten leiden unter einer grossen Kurzsichtigkeit bezüglich dieses Themas. Ihrer Ansicht nach ist die beste Art zu leben das Akzeptieren von allem, die Anpassung an alles. Sie sind der Meinung, alles zu akzeptieren - vorausgesetzt, es kommt von jenen, die Macht haben - sei eine grosse Anpassung. Aber es ist wohl klar, dass ihr abhängiges Leben weit von dem entfernt ist, was wir unter Kohärenz verstehen.
Wir unterscheiden zwischen der Nicht-Anpassung, die uns daran hindert, unseren Einfluss zu erweitern, der rückschrittlichen Anpassung, die uns zum Akzeptieren der bestehenden Bedingungen bringt, und der wachsenden Anpassung, die unseren Einfluss in die Richtung der Vorschläge, die wir erwähnt haben, wachsen lässt.


Fassen wir zusammen:
1. Die Welt ist in einem schnellen Wandel begriffen, dessen Triebkraft die technologische Revolution ist, und diese Veränderung prallt mit den etablierten Strukturen sowie mit den Prägungen und Lebensgewohnheiten der Gesellschaften und Individuen zusammen.
2. Diese Kluft führt zu einer voranschreitenden Krise in allen Bereichen, und es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sie sich wieder einpendeln wird, sondern im Gegenteil, sie wird sich weiter zuspitzen.
3. Da diese Ereignisse unerwartet geschehen sind, ist es schwierig, vorauszusehen, in welche Richtung sich die Dinge weiterentwickeln werden, ebenso wie auch die Personen, die uns umgeben, und schliesslich auch unser eigenes Leben.
4. Viele Sachen, die wir gedacht oder geglaubt haben, nützen uns nichts mehr. Es sind auch keine Lösungen in Sicht, die von einer Gesellschaft, von Institutionen und Individuen, die unter der gleichen Situation leiden, ausgehen.
5. Wenn wir uns entscheiden, uns dafür einzusetzen, diesen Problemen die Stirn zu bieten, dann müssen wir unserem eigenen Leben Zusammenhang verleihen zwischen dem, was wir denken, dem, was wir fühlen, und dem, wie wir handeln. Da wir nicht isoliert existieren, muss diese Kohärenz in Beziehung treten mit anderen, indem wir sie so behandeln, wie wir selbst behandelt werden möchten. Diese beiden Vorsätze können nicht strikt umgesetzt werden, aber sie stellen die Richtung dar, die wir brauchen, vor allem dann, wenn wir sie als permanenten Bezugspunkt ansehen und sie vertiefen und weiterentwickeln.
6. Wir leben in unmittelbarer Beziehung mit anderen, und das ist das Umfeld, in dem wir handeln müssen, um unserer Situation eine positive Richtung zu verleihen. Das ist keine psychologische Frage, ein Thema, das isoliert in den jeweiligen Köpfen der einzelnen Individuen geregelt werden kann, sondern es ist ein Thema, das in Bezug zur Situation steht, in der jeder Mensch lebt.
7. Wenn wir konsequent sind mit dem Vorschlag, den wir voranbringen wollen, dann werden wir zu dem Schluss gelangen, dass das, was für uns und unser persönliches Umfeld positiv ist, auf die ganze Gesellschaft ausgeweitet werden muss. Wir werden zusammen mit anderen, die in dieser gemeinsamen Richtung mit uns übereinstimmen, die geeignetsten Mittel einsetzen, damit eine neue Solidarität ihren Weg finden kann. Deshalb werden wir auch dann, wenn wir ganz spezifisch in unserem persönlichen Umfeld handeln, nicht die globale Situation, die alle Menschen betrifft und die unserer Hilfe bedarf, ebenso wie wir der Hilfe der anderen bedürfen, aus den Augen verlieren.
8. Die unerwarteten Veränderungen führen uns dazu, uns die Notwendigkeit, unserem Leben eine Richtung zu geben, ernsthaft zu überlegen.
9. Die Kohärenz beginnt und endet nicht bei einem selbst, sondern steht in Beziehung mit einem Umfeld, mit anderen Personen. Die Solidarität ist eine Seite der persönlichen Kohärenz.
10. Die Ausgewogenheit bei den Handlungen besteht darin, Prioritäten im eigenen Leben zu setzen und dann auf dieser Grundlage zu handeln, wobei Unausgewogenheiten vermieden werden.
11. Die Gelegenheit beim Handeln berücksichtigt das Zurückweichen vor einer grossen Kraft und das entschlossene Voranschreiten, wenn sie schwächer wird. Diese Idee ist wichtig, um Veränderungen in der Richtung des Lebens zu bewirken, wenn wir dem Widerspruch unterworfen sind.
12. Die Nicht-Anpassung an eine Umgebung, an der wir nichts ändern können, ist genauso unangebracht wie die rückschrittliche Anpassung, bei der wir uns bloss darauf beschränken, die bestehenden Bedingungen zu akzeptieren. Die wachsende Anpassung besteht darin, unseren Einfluss auf das Umfeld zu steigern, und zwar in eine zusammenhängende Richtung.

Empfangt mit diesem Brief einen herzlichen Gruss


Silo, 17.12.91

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