Erster Brief an meine Freunde

Liebe Freunde,
seit einiger Zeit bekomme ich Briefe aus verschiedenen Ländern, in denen ich um Erklärungen und Erweiterungen zu Themen, die in meinen Büchern erschienen sind, gebeten werde. Was man im allgemeinen verlangt, sind Erklärungen über konkrete Dinge wie Gewalt, Politik, Wirtschaft, Ökologie, soziale und zwischenmenschliche Beziehungen. Wie man sehen kann, sind die Fragen zahlreich und verschieden. Es ist klar, dass auf diesen Gebieten die Spezialisten eine Antwort geben müssen, und das ist nicht mein Fall.
Ich werde soweit wie möglich versuchen, nicht das zu wiederholen, was an anderer Stelle schon geschrieben wurde. Hoffentlich kann ich in wenigen Zeilen die allgemeine Situation, in der wir leben, und die unmittelbaren Tendenzen, die sich zeigen, beschreiben. Zu einer anderen Zeit wäre der Leitgedanke dieser Art Beschreibung ein gewisses ‹Unwohlsein der Kultur› gewesen. Heute dagegen werden wir von der schnellen Veränderung sprechen, die sich in der Wirtschaft, in den Gewohnheiten, in den Ideologien und in den Glaubensvorstellungen zeigt, und dabei werden wir versuchen, eine gewisse Desorientierung aufzuspüren, die Individuen und Völker zu ersticken scheint.
Bevor ich zum Thema komme, möchte ich zwei Hinweise geben: Der eine bezieht sich auf die Welt, die schon der Vergangenheit angehört und die in dieser Schrift anscheinend mit einer gewissen Nostalgie betrachtet wird. Der andere bezieht sich auf die Art der Darlegung, in der man ein völliges Nichtvorhandensein von Abstufungen feststellen kann. Die Dinge werden auf eine primitive Art dargestellt, die von denen, die wir kritisieren, in Wirklichkeit nicht so formuliert werden. Ich möchte auch hinzufügen, dass diejenigen, die wie wir an die menschliche Entwicklung glauben, durch diese Veränderungen nicht deprimiert sind. Wir wünschen uns eher eine gesteigerte Beschleunigung der Ereignisse, während wir gleichzeitig versuchen, uns zunehmend an die neuen Zeiten anzupassen. Bezüglich der Art, wie die Argumente von den Verteidigern der ‹Neuen Ordnung› dargelegt werden, kann ich folgendes hinzufügen: Wenn ich von ihnen spreche, schwingen in mir immer noch die Akkorde der folgenden grundverschiedenen literarischen Fiktionen mit: 1984 von Orwell und Schöne Neue Welt von Huxley. Diese hervorragenden Schriftsteller sagten eine zukünftige Welt voraus, in der der Mensch durch gewalttätige Mittel oder sanftere Methoden unterdrückt oder als Roboter enden wird. Ich bin der Meinung, dass beide Schriftsteller in ihren Romanen die ‹Bösen› zu intelligent und die ‹Guten› zu dumm eingeschätzt haben. Vielleicht wurden sie durch einen hintergründigen Pessimismus bewegt, den wir aber jetzt nicht interpretieren werden. Heute sind die ‹Bösen› Leute mit vielen Problemen und einer grossen Gier, aber auf jeden Fall unfähig, geschichtliche Prozesse zu leiten, die ihrem Willen und ihrer Planungsfähigkeit klar entgleiten. Im allgemeinen handelt es sich um wenig lernbereite Leute und ihnen zu Dienste stehende Techniker, die wiederum über beschränkte und vollkommen ungenügende Mittel verfügen. Deshalb werde ich darum bitten, einige Absätze nicht zu ernst zu nehmen. Wir werden uns in Wirklichkeit amüsieren, indem wir diesen Leuten einige Worte in den Mund legen, die sie eigentlich nicht sagen, obwohl ihre Absicht sehr wohl in diese Richtung geht. Ich glaube, man muss diese Sachen nicht so förmlich sehen (entsprechend der Epoche, die zu Ende geht); man sollte sie im Gegenteil mit dem Humor und dem Spass betrachten, der in Briefen von wirklich eng befreundeten Leuten vorhanden ist.

1. Die gegenwärtige Situation
Seit Beginn ihrer Geschichte entwickelt sich die Menschheit weiter, indem sie daran arbeitet, ein besseres Leben zu erreichen. Trotz der Fortschritte wird heute die wirtschaftliche und technologische Macht dazu benutzt, um in weiten Gebieten der Welt zu töten, Armut zu erzeugen und zu unterdrücken. Und zudem wird die Zukunft der neuen Generationen und das allgemeine Gleichgewicht des Lebens auf diesem Planeten zerstört.
Während ein kleiner Teil der Menschheit grosse Reichtümer besitzt, muss die Mehrheit auf das Lebensnotwendigste verzichten. An einigen Orten gibt es genug Arbeit und Lohn, während in anderen Teilen die Situation katastrophal ist. Überall kämpfen die ärmeren Schichten ums nackte Überleben. Heutzutage braucht jeder Mensch, allein schon durch die Tatsache, dass er in einem sozialen Umfeld geboren wurde, ausreichend Nahrung, eine gesundheitliche Versorgung, eine Wohnung, eine Ausbildung, Kleidung, Dienstleistungen..., und in einem bestimmten Alter benötigt er eine Sicherheit für seinen Lebensabend. Mit Recht verlangen dies alle Menschen für sich und für ihre Kinder und erhoffen sich für diese ein besseres Leben. Trotzdem werden diese Ziele für Millionen von Menschen nicht befriedigt.

2. Die Alternative einer besseren Welt
Um die erwähnten Probleme zu vermindern, wurden verschiedene wirtschaftliche Experimente durchgeführt, die unterschiedliche Resultate erbrachten. In der heutigen Zeit neigt man dazu, ein Wirtschaftsmodell anzuwenden, in dem angebliche Marktgesetze automatisch den sozialen Fortschritt regeln und somit auch das Desaster überwinden werden, das von vorhergehenden gelenkten Wirtschaftssystemen erzeugt wurde. Gemäss diesem Schema werden Kriege, Gewalt, Unterdrückung, Ungerechtigkeiten, Armut und Unwissenheit nach und nach und ohne grössere Probleme abnehmen. Die Länder werden sich in regionale Märkte integrieren und sich somit zu einer weltweiten Gesellschaft ohne irgendwelche Schranken entwickeln. So wie die ärmsten Schichten der entwickelten Länder ihren Lebensstandard heben werden, so werden auch die weniger fortgeschrittenen Länder die Früchte des Fortschrittes ernten.
Die Mehrheit wird sich dem neuen Schema, das von spezialisierten Technikern und Geschäftsleuten in Gang gesetzt wird, anpassen. Sollte trotzdem etwas schiefgehen, so werden die Gründe sicher nicht bei den natürlichen Wirtschaftsgesetzen zu suchen sein, sondern bei den Fehlern dieser Experten, die, wie in jeder normalen Firma, nach Bedarf ersetzt werden müssen. Andererseits wird es in dieser ‹freien› Gesellschaft die Öffentlichkeit sein, die demokratisch zwischen verschiedenen Möglichkeiten desselben Systems wählt.

3. Die gesellschaftliche Entwicklung
Gemäss der heutigen Situation und der Alternative, die sich uns anbietet, eine bessere Welt zu schaffen, wäre es angebracht, sich kurz über diese Möglichkeit Gedanken zu machen. Tatsächlich hat man verschiedene wirtschaftliche Experimente mit unterschiedlichen Resultaten durchgeführt, wobei man uns diesbezüglich sagt, dass das neue Experiment die einzige Lösung für unsere grundlegenden Probleme darstellt. Und doch gibt es gewisse Aspekte in diesem Vorschlag, die wir nicht ganz verstehen.
An erster Stelle taucht das Thema der Wirtschaftsgesetze auf. Es scheint so, als ob es - genau wie in der Natur - gewisse Mechanismen gäbe, die, wenn man sie frei spielen lässt, die gesellschaftliche Entwicklung automatisch regulieren würden. Es ist für uns schwierig, zu akzeptieren, dass jeglicher menschliche Prozess - selbstverständlich auch der wirtschaftliche Prozess - der gleichen Ordnung wie die natürlichen Phänomene unterliegen soll. Wir glauben im Gegenteil, dass die menschlichen Aktivitäten nicht natürlich, sondern beabsichtigt, sozial und geschichtlich bedingt sind. Diese Phänomene kommen weder in der Natur im allgemeinen noch bei irgendeiner Tierart vor. Da es sich also um Absichten und Interessen handelt, brauchen wir auch nicht anzunehmen, dass die herrschenden Schichten, die am Wohlstand festhalten, darum besorgt sein werden, die Probleme der weniger Begünstigten zu lösen.
An zweiter Stelle steht die Erklärung, die uns bezüglich der grossen wirtschaftlichen Unterschiede gegeben wird, nämlich dass es diese Unterschiede zwischen einigen wenigen und der Mehrheit schon immer gegeben hat und dass sich die Gesellschaft trotzdem entwickelt hat. Diese Erklärung scheint uns ungenügend. Die Geschichte lehrt uns, dass sich die Völker dadurch entwickelt haben, dass sie ihre Rechte gegenüber den etablierten Mächten gefordert haben. Der soziale Prozess ist nicht dadurch entstanden, dass der angesammelte Reichtum einer Schicht später automatisch ‹nach unten› geflossen wäre.
An dritter Stelle scheint es uns anmassend zu sein, dass man uns bestimmte Länder, die mit dieser sogenannten freien Wirtschaft agieren und die heute einen hohen Lebensstandard haben, als Modellbeispiele vorführt. Diese gleichen Länder haben Expansionskriege gegen andere Länder geführt, sie haben ihnen den Kolonialismus oder den Neokolonialismus aufgezwungen und Länder und Regionen aufgeteilt. Sie haben Geld aufgrund von Diskriminierung und Gewalt gemacht, und schlussendlich haben sie billige Arbeitskräfte absorbiert, während sie für die schwächeren Volkswirtschaften nachteilige Handelsbedingungen durchsetzten. Man könnte argumentieren, dass diese Vorgehensweise als ‹gute Geschäfte› verstanden wurden. Aber wenn man diese Behauptung aufstellt, kann man nicht daran festhalten, dass die erwähnte Entwicklung unabhängig von einer besonderen Art von Beziehung mit anderen Völkern sei.
An vierter Stelle erzählt man uns vom wirtschaftlichen und technischen Fortschritt sowie von der Eigeninitiative, die eine ‹freie› Wirtschaft ermöglicht. In bezug auf diesen technischen und wirtschaftlichen Fortschritt muss gesagt werden, dass dieser existiert, seit der Mensch die Keule, das Rad und das Feuer erfunden hat, und zwar in einer historischen Anhäufung, die sich recht wenig um die Marktgesetze gekümmert zu haben scheint. Wenn man hingegen davon spricht, dass eine reiche Wirtschaft Talente anzieht und ihnen die nötigen Mittel zur Verfügung stellt, ihnen ihre Forschungen bezahlt und zuletzt die Motivation durch bessere Belohnung steigert, werden wir sagen, dass das seit Jahrtausenden so ist und nicht einer bestimmten Art von Wirtschaft zugeschrieben werden kann, sondern einfach der Tatsache, dass an diesem Ort genügend Mittel zur Verfügung stehen, unabhängig davon, woher diese Mittel stammen.
An fünfter Stelle bleibt noch die Möglichkeit, den Fortschritt dieser Gemeinschaften durch die unantastbare natürliche ‹Gabe› der besonderen Talente, bürgerlichen Tugenden, Arbeitsamkeit, Organisationsfähigkeit und ähnlicher Dinge zu erklären. Das ist bereits kein Argument mehr, sondern eher eine andächtige Erklärung, in der die soziale und historische Realität, die das Entstehen dieser Völker erklärt, ausser acht gelassen wird.
Natürlich haben wir zu wenig Kenntnisse, um zu verstehen, wie mit solchen historischen Zusammenhängen dieses Schema in der unmittelbaren Zukunft aufrechterhalten werden kann. Aber das gehört in eine andere Diskussion, nämlich in die Diskussion darüber, ob es eine solche freie Marktwirtschaft wirklich gibt oder ob es sich bei ihr um einen versteckten Protektionismus oder um eine versteckte Planwirtschaft handelt, in der zu einem gewissen Moment ein bestimmtes Ventil geöffnet wird (und zwar dort, wo sie die Situation beherrschen) und ein anderes geschlossen wird (nämlich dort, wo das Gegenteil eintrifft). Wenn das so ist, dann wird alles, was als Versprechen des Fortschritts deklariert wird, nur dem explosionsartigen Wachstum und der Verbreitung der Wissenschaft und Technologie überlassen bleiben, unabhängig von der sogenannten Selbsttätigkeit der Wirtschaftsgesetze.

4. Die zukünftigen Experimente
Wie bis jetzt wird ein herrschendes Schema, wenn nötig, durch ein anderes ersetzt werden, das die Mängel des vorhergehenden Modells ‹beheben› wird. Auf diese Art werden sich die Reichtümer weiterhin Schritt für Schritt in den Händen einer immer mächtigeren Minderheit konzentrieren. Selbstverständlich wird die Entwicklung weitergehen, ebenso werden auch die legitimen Bestrebungen der Völker nicht aufgehalten. In kurzer Zeit werden also die letzten naiven Haltungen, die das Ende der Ideologien, der Konfrontationen, der Kriege, der wirtschaftlichen Krisen und der sozialen Unruhen behaupten, weggefegt werden. Selbstverständlich werden sowohl die Lösungen als auch die Konflikte die ganze Welt betreffen, da es keine voneinander isolierten Punkte mehr geben wird. Und noch etwas ist sicher: Weder die Schemen der gegenwärtigen Beherrschung noch die bis heute gültigen Widerstandsformen können sich aufrechterhalten lassen.

5. Die Veränderung und die zwischenmenschlichen Beziehungen
Sowohl die Regionalisierung der Märkte wie auch die lokalen und ethnischen Forderungen zielen auf einen Zerfall des Nationalstaates ab. Die Bevölkerungsexplosion in den armen Regionen führt zu Völkerwanderungen, die an der Grenze jeglicher Kontrolle stehen. Die grosse bäuerliche Familie löst sich auf, indem die jungen Generationen in die Städte ziehen. Die industrielle und nachindustrielle städtische Familie wird auf ein Minimum reduziert, während die Grossstädte menschliche Gruppen absorbieren, die von anderen kulturellen Landschaften geprägt sind. Die wirtschaftlichen Krisen und die Anpassungen der Produktionsformen führen dazu, dass die Diskriminierung erneut beginnt. Währenddessen führen die technologische Beschleunigung und die Grossproduktion dazu, dass die Produkte bereits beim Eintritt in den Konsumkreislauf veraltet sind. Dieser Ersatz von Objekten geht einher mit der Instabilität und den Veränderungen in den menschlichen Beziehungen. Die ehemalige Solidarität, Erbe dessen, was einmal Brüderlichkeit genannt wurde, hat ihre Bedeutung verloren. Die Arbeits-, Studien- und Sportskollegen und die Freunde von früher werden zu Konkurrenten. Die Partner in der Zweierbeziehung kämpfen um die Herrschaft und berechnen vom Beginn der Beziehung an, was der Vorteil des Zusammenseins sein wird, ebenso wie sie den Vorteil der Trennung berechnen.
Nie zuvor gab es so viele Kommunikationsmöglichkeiten in der Welt, und dennoch leiden die Individuen jeden Tag mehr an einer ausweglosen Kommunikationslosigkeit. Nie zuvor waren die städtischen Zentren dermassen bevölkert. Dennoch sprechen die Leute von ‹Einsamkeit›. Nie zuvor haben die Leute die menschliche Wärme nötiger gehabt, und dennoch verwandelt jede Annäherung die Freundlichkeit und die Hilfe in etwas Verdächtiges. So haben sie unsere armen Leute zurückgelassen: Sie haben jeden unglücklichen Menschen glauben lassen, dass er etwas Wichtiges zu verlieren hat und dass dieses nicht fassbare ‹Etwas› vom ganzen Rest der Menschheit begehrt wird! Unter diesen Bedingungen kann man ihm die folgende Geschichte erzählen, als würde es sich dabei um die authentische Wirklichkeit handeln...

6. Eine Geschichte für angehende Manager
«Die Gesellschaft, die sich in Gang setzt, wird schliesslich zum Überfluss führen. Aber nebst den grossen objektiven Vorteilen wird auch eine subjektive Befreiung der Menschheit erreicht werden. Die ehemalige Solidarität, die typisch für die Armut war, wird nicht mehr nötig sein. Denn viele werden damit einverstanden sein, dass mit Hilfe des Geldes oder etwas Gleichwertigem fast alle Probleme gelöst werden können. Folgerichtig werden alle Anstrengungen, Gedanken und Träume in diese Richtung gehen. 
Mit dem Geld wird man sich gutes Essen, gute Wohnungen, Reisen, Vergnügungen und technologische Spielzeuge kaufen sowie Leute, die machen, was man will. Es wird eine effiziente Liebe, eine effiziente Kunst und einige effiziente Psychologen geben, die die noch verbleibenden persönlichen Probleme lösen werden und die später dann von der neuen Gehirnchemie und der Gentechnologie endgültig gelöst werden.
In dieser Überflussgesellschaft werden Selbstmord, Alkoholismus, Drogensucht, Unsicherheit und Kriminalität zurückgehen, wie wir bereits heute in den wirtschaftlich am besten entwickelten Ländern sehen können(?). Auch die Diskriminierung wird verschwinden, und die Kommunikation unter den Leuten wird zunehmen. Niemand wird von unnötigen Gedanken bezüglich Sinn des Lebens, Einsamkeit, Krankheit, Alter und Tod gequält werden, weil man mit entsprechenden Kursen und einer gewissen therapeutischen Unterstützung diese Reflexe, welche die Leistung und die Effizienz der Gesellschaft dermassen aufgehalten haben, ausschalten können wird. Alle werden allen vertrauen, da die Konkurrenz in der Arbeit, im Studium und in der Zweierbeziehung schliesslich zu reifen Beziehungen führen wird. Zum Schluss werden die Ideologien verschwunden sein, und sie werden nicht mehr dazu gebraucht werden, um die Menschen einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Selbstverständlich wird niemand Proteste oder Unzufriedenheiten bezüglich unwichtigen Themen verhindern, solange die richtigen Ausdruckskanäle bezahlt werden. Ohne Freiheit mit Zügellosigkeit zu verwechseln, werden sich die Bürger versammeln (aus sanitären Gründen in kleineren Gruppen) und ihre Meinung auf öffentlichen Plätzen äussern, ohne mit belästigenden Geräuschen oder Publizität ‹die Gemeinde›, oder wie sie immer später genannt werden wird, zu stören.
Aber das Interessanteste wird geschehen, wenn man keine polizeiliche Kontrolle mehr brauchen wird. Jeder Bürger wird entschlossen sein, die anderen vor den Lügen zu beschützen, die irgendein ideologischer Terrorist zu verbreiten versuchen könnte. Diese Verteidiger werden soviel soziales Verantwortungsbewusstsein haben, dass sie eilig die Massenmedien aufsuchen werden, wo sie sofort in Empfang genommen werden, um die Bevölkerung zu warnen. Sie werden brillante Studien schreiben, die sofort veröffentlicht werden, und sie werden Podiumsdiskussionen veranstalten, in denen die auf hohem kulturellen Niveau stehenden Meinungsbildner irgendeinen nicht Vorgewarnten darüber aufklären, dass er immer noch den dunklen Kräften der Planwirtschaft, des Autoritarismus, der Antidemokratie und des religiösen Fanatismus in die Hände fallen könnte. 
Es wird nicht einmal nötig sein, die Störenfriede zu verfolgen, denn in einem von den Medien dermassen effizient kontrollierten System wird sich ihnen niemand nähern wollen, um sich nicht anzustecken. 
Im schlimmsten Fall wird man sie mit Effizienz ‹umprogrammieren›. Sie werden sich öffentlich für ihre Wiedereingliederung bedanken, ebenso für die Vorteile, die ihr ‹Bekenntnis zur Güte der Freiheit› mit sich bringen wird. Andererseits werden diese eifrigen Verteidiger - falls sie nicht speziell geschickt wurden, um diese wichtige Aufgabe zu erfüllen - gewöhnliche Leute sein, die auf diese Weise aus der Anonymität heraustreten können, soziale Anerkennung für ihre moralischen Qualitäten erlangen, Autogramme geben und selbstverständlich eine verdiente Belohnung erhalten.
Der Konzern wird die grosse Familie sein, die die Fortbildung, die Beziehungen und die Freizeit fördert. Die Roboter werden die körperliche Anstrengung anderer Epochen ersetzt haben, und es wird eine reale Selbstverwirklichung sein, vom eigenen Haus aus für den Konzern zu arbeiten. So wird die Gesellschaft keine Organisationen mehr brauchen, die nicht in die Firma eingegliedert sind. Der Mensch, der so sehr für sein Wohlbefinden gekämpft hat, wird endlich im Himmel angekommen sein. Indem er von Planet zu Planet gesprungen ist, wird er das Glück gefunden haben. So eingerichtet, wird er ein junger, wettbewerbsfähiger, verführerischer, konsumorientierter, triumphierender und pragmatischer (vor allem pragmatischer)... Mensch sein: Ein Manager des Konzerns!»

7. Die menschliche Veränderung
Die Welt verändert sich mit grosser Geschwindigkeit, und viele Punkte, die bis vor kurzem blindlings geglaubt wurden, können nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Beschleunigung erzeugt Instabilität und Desorientierung in allen Gesellschaften, egal ob sie arm oder wohlhabend sind. In dieser veränderten Situation hören sowohl die traditionellen Machthaber und ihre ‹Meinungsbildner› wie auch die alten politischen und sozialen Vorkämpfer auf, Bezugspunkte für die Leute zu sein.
Trotzdem ist eine den neuen Zeiten entsprechende Sensibilität am Entstehen. Eine Sensibilität, die die Welt als eine Globalität erfasst und die sieht, dass die Schwierigkeiten der Personen an jedwedem Ort letztendlich andere Personen einbeziehen, auch wenn sie sich weit voneinander entfernt befinden. Die Kommunikationsmittel, der Austausch von Gütern und die schnelle Wanderung vieler Menschen von einem Ort zum anderen zeigen diesen Prozess zunehmender weltweiter Verflechtung. Beim Verständnis der Globalität vieler Probleme tauchen neue Handlungskriterien auf, da man bemerkt, dass die Aufgabe jener, die eine bessere Welt wollen, wirksamer wird, wenn man diese Aufgabe in einem Umfeld sucht, auf das man irgendeinen Einfluss hat. Im Unterschied zu anderen Zeiten, die voll hohler Phrasen waren, mit denen man äussere Anerkennung erreichen wollte, beginnt man heute, die bescheidene und emotional empfundene Arbeit zu schätzen, mit der man nicht die eigene Person in den Vordergrund stellt, sondern sich selbst zu verändern sucht und dem unmittelbaren Umfeld - Familie, Arbeitskollegen, Freunden - zu helfen versucht, sich selbst zu verändern. Wer die Menschen wirklich gerne hat, wird diese bescheidene Arbeit kaum geringschätzen. Sie ist jedoch unverständlich für jeden Opportunisten, der in der alten Landschaft der Massenführer geprägt worden ist einer Landschaft, in der er gelernt hat, andere für seinen gesellschaftlichen Aufstieg zu benutzen. Wenn jemand feststellt, dass der schizophrene Individualismus kein Ausweg mehr ist, und er all seinen Bekannten offen mitteilt, was er denkt und was er macht, ohne die lächerliche Angst, nicht verstanden zu werden; wenn er auf andere zugeht; wenn er sich für jeden einzelnen interessiert und nicht für die anonyme Masse; wenn er den Ideenaustausch und die gemeinsame Durchführung von Aufgaben fördert; wenn er deutlich darauf hinweist, dass es nötigt ist, diese Aufgabe der Kontaktwiederherstellung in einem sozialen Geflecht, das von anderen zerstört wurde, zu vervielfältigen; wenn er fühlt, dass auch die unbedeutendste Person von höherer menschlicher Qualität ist als jeder Schurke, der sich an der Spitze der heutigen Gesellschaft befindet... wenn dies geschieht, dann deshalb, weil in seinem Inneren wieder das Schicksal zu sprechen beginnt, das die Völker in die beste Richtung ihrer Entwicklung geführt hat. Dieses Schicksal, das so viele Male verdreht und vergessen wurde, das aber an den Wendepunkten der Geschichte immer wiedergefunden wurde. Man macht nicht nur eine neue Sensibilität aus, eine neue Handlungsweise, sondern überdies eine neue moralische Haltung und eine neue taktische Bereitschaft dem Leben gegenüber.
Wenn man mich drängt, das weiter oben Gesagte zu präzisieren, so würde ich sagen, dass die Leute heute erneut die Notwendigkeit spüren und die moralische Wahrheit darin erkennen, die anderen so zu behandeln, wie man selber behandelt werden möchte, obwohl das seit dreitausend Jahren ständig wiederholt wird. Ich würde hinzufügen und dies fast als allgemeine Verhaltensgesetze bezeichnen, dass man heute auf folgendes abzielt: 1. eine gewisse Ausgewogenheit im Versuch, die wichtigen Dinge des Lebens zu ordnen und sie gleichmässig zusammen voranzubringen und dabei zu vermeiden, dass einige Dinge sich übertrieben weiterentwickeln, während andere nicht Schritt halten können; 2. eine gewisse wachsende Anpassung, indem man zugunsten der Entwicklung handelt (und nicht einfach zugunsten einer kurzen momentanen Situation) und indem man den verschiedenen Formen des menschlichen Rückschritts die Kraft nimmt; 3. eine gewisse Gelegenheit zu handeln, indem man gegenüber einer grossen Kraft zurückweicht (und nicht gegenüber jedem Problemchen) und voranschreitet, wenn sie am schwächsten ist; 4. eine gewisse Kohärenz, indem man Handlungen wiederholt, die die Empfindung von Einheit und Übereinstimmung mit sich selbst bewirken, während man diejenigen weglässt, die das Gefühl von Widerspruch und Nicht-Übereinstimmung mit dem, was man denkt, fühlt und macht, verursachen.
Ich glaube nicht, dass es nötig ist, zu erklären, warum ich sage, dass «die Notwendigkeit und die moralische Wahrheit empfunden wird, den anderen so zu behandeln, wie man selber behandelt werden möchte», gerade angesichts der Tatsache, dass heute nicht so gehandelt wird. Ich glaube auch nicht, dass ich bezüglich dem, was ich unter ‹Weiterentwicklung› oder ‹wachsende Anpassung› (und nicht einfach Anpassung als ‹Sich-Einfügen›) verstehe, weitere Erklärungen abgeben muss. Was die Massstäbe bezüglich des Zurückweichens oder Voranschreitens gegenüber grossen oder schwachen Kräften betrifft, so muss man zweifellos mit angemessenen Indikatoren rechnen können, die ich hier nicht besprochen habe. Was schliesslich das Ansammeln von einheitlichen Handlungen gegenüber den unmittelbaren, widersprüchlichen Situationen, in denen wir leben, betrifft, oder umgekehrt gesagt, das Verwerfen des Widerspruchs, so scheint das von allen Seiten her betrachtet eine Schwierigkeit zu sein. Das ist sicher so, aber wenn man das weiter oben Gesagte noch einmal überprüft, so wird man sehen, dass ich all diese Dinge im Zusammenhang mit einer Verhaltensweise erwähnt habe, auf die man heute abzuzielen beginnt und die sich von früheren Verhaltensweisen merklich unterscheidet.
Ich habe versucht, auf ein paar besondere Eigenschaften hinzuweisen, die einer neuen Sensibilität, einem neuen zwischenmenschlichen Verhalten und einer neuen Art des persönlichen Verhaltens entsprechen, und es scheint mir, dass damit die einfache situationsbezogene Kritik ersetzt wird. Denn wir wissen, dass die Kritik immer nötig ist, aber dass es noch wichtiger ist, etwas anderes als das zu machen, was wir kritisieren!

Empfangt mit diesem Brief einen herzlichen Gruss


Silo, 21.2.91

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