Vierter Brief an meine Freunde

Liebe Freunde,
in vorangegangenen Briefen äusserte ich meine Meinung über die Gesellschaft, über die menschlichen Gruppen und über die Individuen in bezug auf den jetzigen Moment, der von der Veränderung und dem Verlust an Bezugspunkten gekennzeichnet ist. Ich kritisierte ausserdem gewisse negative Tendenzen in der Entwicklung der Ereignisse und hob die bekanntesten Haltungen jener hervor, die den Anspruch erheben, auf die Notsituation dieses Momentes eine Antwort zu geben. Es ist klar, dass all diese Ansichten - so gut oder schlecht sie formuliert sein mögen - meinen besonderen Standpunkt wiedergeben, der wiederum aus einer Gesamtheit von Ideen entsteht, die ihm als Grundlage dienen. Sicherlich deswegen bekam ich von mehreren Seiten die Anregung, mich darüber zu äussern, von ‹wo› aus ich meine Kritik übe oder meine Vorschläge entwickle.
Schliesslich kann man ja irgend etwas mehr oder weniger Originelles sagen, wie es bei den Einfällen geschieht, die wir tagtäglich haben und die wir nicht zu rechtfertigen versuchen. Solche Einfälle können heute einer Art und morgen entgegengesetzter Art sein, wobei sie sich im Rahmen der Nichtigkeiten bewegen, die der alltäglichen Einschätzung eigen ist. Deshalb glauben wir im allgemeinen jeden Tag weniger an die Meinungen der anderen und an unsere eigene Meinung. Wir gehen nämlich davon aus, dass es sich dabei um situationsbezogene Einschätzungen handelt, die sich innerhalb weniger Stunden ändern können, so wie es bei den guten Gelegenheiten an der Börse der Fall ist. Und wenn es bei den Meinungen etwas mit mehr Beständigkeit gibt, dann ist es das, was von der Mode abgesegnet ist und dann von der darauffolgenden Mode ersetzt wird. Ich bin nicht dabei, die Unbeweglichkeit auf dem Gebiet der Ansichten zu verteidigen, sondern ich hebe die Haltlosigkeit derselben hervor, weil es in Wirklichkeit sehr interessant wäre, wenn die Veränderung auf der Grundlage einer inneren Logik stattfände und nicht gemäss dem Wehen richtungsloser Winde. Aber wer ist in der Lage, innere Logiken ertragen zu können - in einer Epoche, in der jeder um sich schlägt wie ein Ertrinkender, der versucht, sich irgendwie zu retten? Selbst in diesem Augenblick, in dem ich dies schreibe, fällt mir auf, dass das Gesagte in die Köpfe mancher Leser nicht eindringen kann, und zwar weil sie bislang drei mögliche Merkmale vermissen werden, die sie sonst verlangen: 1. dass das, was gerade erklärt wird, ihnen zur Unterhaltung dient; 2. dass ihnen sofort gezeigt wird, wie sie es in ihren Geschäften verwenden können; 3. dass es mit dem übereinstimmt, was von der Mode abgesegnet ist.
Ich habe die Gewissheit, dass dieser Abschnitt, der mit ‹Liebe Freunde› anfängt und bis hierher reicht, sie völlig verwirrt, so als schriebe ich in Sanskrit. 
Es ist jedoch erstaunlich, wie dieselben Personen schwierige Dinge verstehen, die von den raffiniertesten Bankoperationen bis hin zu den ‹Spezialitäten› der EDV-Verwaltungstechnik reichen. Ihnen fällt es unheimlich schwer, zu verstehen, dass wir von den Meinungen, den Ansichten und den Ideen sprechen, die ihnen als Grundlage dienen; dass wir von der Unmöglichkeit sprechen, bei den einfachsten Dingen verstanden zu werden, wenn sie nicht zu der Landschaft passen, die in ihnen aufgrund ihrer Erziehung und ihrer Zwänge entstanden ist. So stehen die Dinge also!
Nachdem das Vorangegangene geklärt worden ist, werde ich versuchen, in diesem Brief die Ideen zusammenzufassen, die meinen Ansichten, Kritiken und Vorschlägen zugrunde liegen. Dabei werde ich besonders darauf achten, nicht allzusehr die Grenze des Werbeslogans zu überschreiten. Denn die zusammenhängenden Ideen sind ‹Ideologien› - wie es schon der weise Fachjournalismus erklärt -, und diese Ideologien wiederum sind - genauso wie die Lehren - Werkzeuge zur Gehirnwäsche im Dienste derer, die sich dem freien Handel und der sozialen Marktwirtschaft der Meinungen widersetzen. Wollen wir den Forderungen des Postmodernismus, d.h. den Forderungen der Haute Couture (Nachtkleider, Fliege, Schulterpolster, Turnschuhe und Sakko mit hochgekrempelten Ärmeln), der dekonstruktivistischen Architektur und der unstrukturierten Dekoration, entsprechen, sind wir heutzutage dazu gezwungen, dass die Teile unserer Gedankengänge nicht zueinander passen. Auch dürfen wir keinesfalls vergessen, dass die Kritik der Sprache ebenfalls das Systematische, das Strukturelle und das Prozessbezogene verabscheut! Selbstverständlich entspricht all das der herrschenden Ideologie der Konzerne, die Grauen vor der Geschichte und vor den Ideen empfinden, bei deren Entstehung sie nicht mitwirkten und in denen sie daher keinen gewichtigen Prozentsatz an Aktien anlegen konnten.
Scherz beiseite, beginnen wir nun mit der Bestandsaufnahme unserer Ideen, jedenfalls derer, die wir für die wichtigsten halten. Ich muss darauf hinweisen, dass ein grosser Teil von ihnen bereits bei einem Vortrag dargelegt wurde, den ich am 23.5.91 in Santiago de Chile hielt.



1. Ausgangspunkt unserer Ideen
Unsere Auffassung geht nicht von allgemeinen Ideen aus, sondern vom Studium des menschlichen Lebens im besonderen: dem Einzigartigen der Existenz, dem Einzigartigen der persönlichen Empfindung von Denken, Fühlen und Handeln. Diese Ausgangshaltung macht sie unvereinbar mit jedem anderen System, das von den Ideen, von der Materie, vom Unbewussten, vom Willen, von der Gesellschaft usw. ausgeht. Wenn jemand irgendeine Auffassung annimmt oder ablehnt, egal wie logisch oder ausgefallen sie sein mag, wird immer er selbst mit im Spiel sein, gerade weil er ja derjenige ist, der ablehnt oder annimmt. Er selbst wird mit im Spiel sein und nicht die Gesellschaft oder das Unbewusste oder die Materie.
Sprechen wir also über das menschliche Leben. Wenn ich mich beobachte, und zwar nicht vom physiologischen, sondern vom existentiellen Standpunkt aus, dann finde ich mich in einer gegebenen Welt, die ich weder aufgebaut noch ausgewählt habe. Ich befinde mich inmitten von unvermeidbaren Phänomenen, und das beginnt schon mit meinem eigenen Körper. Der Körper als grundlegender Bestandteil meines Daseins ist ausserdem als Phänomen von gleicher Art wie die natürliche Welt, in der er wirkt und seinerseits die Auswirkungen dieser Welt erfährt. Die Natürlichkeit des Körpers weist für mich gegenüber den übrigen Phänomenen bedeutende Unterschiede auf, und zwar folgende: 1. die unmittelbare Empfindung, die ich von ihm habe, 2. die Empfindung, die ich durch ihn von den äusseren Phänomenen habe, 3. die Verfügbarkeit über einige seiner Tätigkeiten dank meiner unmittelbaren Absicht.

2. Natur, Absicht und Öffnung des Menschen
Es ist aber so, dass mir die Welt nicht nur als Anhäufung von natürlichen Objekten erscheint, sondern als eine Verflechtung von anderen Menschen und von ihnen geschaffenen bzw. veränderten Dingen und Zeichen. Die Absicht, die ich in mir erkenne, erscheint als ein grundlegendes Element zur Interpretation des Verhaltens der anderen. Und genauso, wie ich meine Ansicht der sozialen Welt durch das Verständnis der Absichten gestalte, werde ich von ihr gestaltet. Selbstverständlich sprechen wir von Absichten, die sich in der körperlichen Handlung ausdrücken. Dank den körperlichen Ausdrucksformen oder der Wahrnehmung der Situation, in der sich der andere befindet, kann ich verstehen, was diese bedeuten und was seine Absicht ist. Andererseits erscheinen mir die natürlichen und menschlichen Dinge als angenehm oder schmerzhaft und ich versuche, ihnen gegenüber einen Standort zu wählen, indem ich meine Situation verändere.
Auf diese Weise bin ich gegenüber der Welt des Natürlichen und der Welt der anderen Menschen nicht verschlossen, sondern mein Charakteristikum ist eben gerade ‹die Öffnung›. Mein Bewusstsein hat sich intersubjektiv gebildet, da es bestimmte Denkmuster, bestimmte gefühlsmässige Modelle und Handlungsschemata verwendet, die ich zwar als ‹eigene› empfinde, die ich aber auch an anderen erkenne. Und natürlich ist mein Körper zur Welt hin offen, insofern ich sie wahrnehme und auf sie gerichtet handle. Die natürliche Welt erscheint mir im Unterschied zur menschlichen ohne Absicht. Selbstverständlich kann ich mir vorstellen, dass die Steine, die Pflanzen und die Sterne Absichten besitzen, aber ich sehe nicht, wie man mit ihnen zu einer effektiven Verständigung kommen kann. Selbst die Tiere, bei denen ich manchmal den Funken von Intelligenz entdecke, erscheinen mir unergründlich und in einer von ihrer Natur aus langsamen Veränderung begriffen. Ich sehe Insektenstaaten, die vollkommen strukturiert sind, höhere Säugetiere, die rudimentäre Werkzeuge benutzen, aber sie wiederholen ihre Verhaltensmuster in einer langsamen genetischen Veränderung, so als wären sie immer die ersten Vertreter ihrer Art. Und wenn ich die Fähigkeiten der Pflanzen und der Tiere feststelle, die vom Menschen verändert und domestiziert wurden, erkenne ich seine Absicht, die sich einen Weg bahnt und die Welt menschlich macht.

3. Die soziale und geschichtliche Öffnung des Menschen
Die Definition des Menschen aufgrund seiner Gesellschaftlichkeit genügt mir nicht, da dies nicht seinen Unterschied zu zahlreichen Arten ausmacht; auch seine Arbeitskraft ist nicht das Charakteristische, wenn man sie mit der kräftigerer Tiere vergleicht; selbst die Sprache genügt nicht, um ihn in seinem Wesen zu definieren, da wir ja von Kommunikationscodes und -formen zwischen verschiedenen Tieren wissen. Wenn jeder neue Mensch dagegen auf eine von anderen veränderte Welt trifft und von dieser beabsichtigten Welt gestaltet wird, stelle ich seine Fähigkeit fest, das Zeitliche zu speichern und sich ihm anzuschliessen. Das heisst, ich entdecke seine sozial-geschichtliche Dimension, nicht nur seine soziale.
Wenn man die Dinge so sieht, kann ich nun folgende Definition versuchen: Der Mensch ist das geschichtliche Wesen, dessen Art des sozialen Handelns seine eigene Natur verwandelt. Wenn ich vom vorher Gesagten ausgehe, muss ich wohl akzeptieren, dass dieses Wesen seine physische Beschaffenheit absichtlich verändern kann. Und so geschieht es ja heutzutage. Es begann mit dem Gebrauch von Instrumenten, die er als äussere Prothesen vor seinen Körper stellte und die ihm erlaubten, die Fähigkeiten seiner Hände zu erweitern, seine Sinnesorgane zu vervollkommnen und seine Kraft und Arbeitsqualität zu erhöhen. Von Natur aus war er nicht dazu befähigt, sich im Wasser und in der Luft zu bewegen. Trotzdem schuf er Bedingungen, um sich in ihnen fortzubewegen, bis er damit anfing, seine natürliche Umgebung zu verlassen, nämlich den Planeten Erde. Heute ist er ausserdem dabei, in seinen eigenen Körper einzudringen, indem er seine Organe ersetzt, in seine Hirnchemie eingreift, künstliche Befruchtung im Reagenzglas betreibt und seine Gene manipuliert. Wenn man mit der Idee von ‹Natur› die Beständigkeit hervorheben wollte, ist eine solche Idee heute unangebracht, selbst wenn man sie auf das Stofflichste des Menschen, d.h. auf seinen Körper, anwendet. Und was eine ‹natürliche Moral›, ein ‹Naturrecht› oder ‹natürliche Institutionen› betrifft, finden wir ganz im Gegensatz dazu, dass auf diesem Gebiet alles sozial-geschichtlich ist und dass hier nichts von Natur aus existiert.

4. Die auf die Veränderung gerichtete Handlung des Menschen
Neben der Auffassung, die von einer menschlichen Natur spricht, hat noch eine andere Auffassung gewirkt, die von der Passivität des Bewusstseins sprach. Diese Ideologie betrachtete den Menschen als eine Wesenheit, die als Antwort auf die Reize der natürlichen Welt handelt. Was als grober Sensualismus begann, wurde nach und nach von Strömungen verdrängt, die den Menschen als geschichtliches Wesen begriffen, in denen aber die gleiche Idee von der Passivität des Bewusstseins erhalten wurde. Und selbst wenn sie der Aktivität und der Verwandlung der Welt den Vorrang vor der Interpretation ihrer Tatsachen gaben, fassten sie besagte Aktivität als Folge von Bedingungen auf, die ausserhalb des Bewusstseins liegen.
Aber jene althergebrachten Vorurteile bezüglich der menschlichen Natur und der Passivität des Bewusstseins drängen sich heutzutage in verwandelter Form auf, und zwar als eine neue Darwinistische Theorie mit Kriterien wie ‹der natürlichen Auswahl, die durch den Kampf ums Überleben der Anpassungsfähigsten entsteht›. Solch eine zoologische Auffassung wird in ihrer jüngsten Version und bei ihrer Übertragung auf die Welt der Menschen versuchen, die vorhergegangene Dialektik der Rassen und Klassen durch eine Dialektik zu überwinden, die ‹natürlichen› Wirtschaftsgesetzen unterliegt, welche die gesamte soziale Aktivität von selbst regeln. Also wird der Mensch an sich wieder einmal unterdrückt und verdinglicht.
Wir haben nun die Auffassungen betrachtet, die den Menschen ausgehend von theoretischen Verallgemeinerungen erklären wollen und die Behauptung von der Existenz einer menschlichen Natur und eines passiven Bewusstseins vertreten. Im entgegengesetzten Sinn betonen wir die Notwendigkeit, von der Einzigartigkeit des Menschen auszugehen; wir betonen das Sozial-Geschichtliche und Nicht-Natürliche am Phänomen des Menschen, und wir bekräftigen ausserdem die Tätigkeit seines die Welt verändernden Bewusstseins, und zwar gemäss seiner Absicht. Wir haben sein Leben als ein vor Situationen gestelltes Leben betrachtet und seinen Körper als unmittelbar wahrgenommenen natürlichen Gegenstand gesehen, der ebenfalls zahlreichen Anweisungen seiner Absicht unmittelbar unterliegt. Demzufolge drängen sich uns folgende Fragen auf: 1. Was bedeutet «Das Bewusstsein ist aktiv», das heisst, wie kann es seine Absicht auf den Körper richten und durch ihn die Welt verändern? 2. Was bedeutet «Die menschliche Konstitution ist eine sozial-geschichtliche»? Diese Fragen müssen vom einzelnen Dasein her beantwortet werden, um nicht in theoretische Verallgemeinerungen zurückzufallen, aus denen später ein System zur Interpretation abgeleitet würde. Auf diese Weise, um die erste Frage zu beantworten, wird man mit unmittelbarer Klarheit erfassen müssen, wie die Absicht auf den Körper wirkt. Um die zweite Frage zu beantworten, wird man wohl von der offenkundigen Zeitlichkeit und Intersubjektivität im Menschen und nicht von allgemeinen Gesetzen der Geschichte und der Gesellschaft ausgehen müssen. In unserem Buch Beiträge zum Denken geht es darum, eben diese beiden Fragen zu beantworten. Im ersten Essay dieses Buches wird die Funktion untersucht, die das Bild im Bewusstsein erfüllt. Dabei wird die Fähigkeit dieses Bildes hervorgehoben, den Körper im Raum zu bewegen. Der zweite Essay beschäftigt sich mit dem Thema der Geschichtlichkeit und der Gesellschaftlichkeit. Die spezifische Behandlung dieser Themen führt uns aber zu weit weg von diesem Brief, und deshalb verweisen wir einfach nur auf die erwähnte Schrift.

5. Die Überwindung von Schmerz und Leiden als grundlegende Lebensprojekte
In dem Buch Beiträge zum Denken haben wir gesagt, dass die natürliche Bestimmung des Körpers die Welt ist und dass es genügt, seine Beschaffenheit zu betrachten, um diese Aussage zu bestätigen. Seine Sinnesorgane und seine Ernährungs-, Fortbewegungs- und Fortpflanzungsorgane usw. sind von Natur aus dazu geschaffen, in der Welt zu sein. Aber ausserdem gibt es das Bild, das durch den Körper seine auf Veränderung gerichtete Energie in Gang setzt; dies geschieht nicht, um die Welt wiederzugeben, um eine gegebene Situation widerzuspiegeln, sondern im Gegenteil, um diese gegebene Situation zu verändern. Bei diesem Vorgang stellen die Gegenstände Beschränkungen oder Erweiterungen der körperlichen Möglichkeiten dar, und die fremden Körper erscheinen als Vervielfältigung dieser Möglichkeiten insofern, als sie Absichten unterliegen, die als ähnlich zu den Absichten erkannt werden, von denen der eigene Körper geleitet wird.
Warum hätte es der Mensch nötig, die Welt und sich selbst zu verwandeln? Eben aufgrund der Situation von Endlichkeit und Entbehrungen in Zeit und Raum, in der er sich befindet und die er als körperlichen Schmerz und geistiges Leiden empfindet. So ist die Überwindung des Schmerzes nicht nur eine tierische Antwort, sondern eine zeitliche Gestaltung, in der die Zukunft den Vorrang hat und die zu einem Impuls wird, der für das Leben grundlegend ist, auch wenn die Dringlichkeit in einem bestimmten Augenblick nicht vorhanden ist. Neben der unmittelbaren reflexartigen und natürlichen Antwort wird deswegen die verzögerte Antwort, die den Schmerz zu vermeiden sucht, vom geistigen Leiden angesichts der Gefahr ausgelöst; sie tritt in der Vorstellung als künftige Möglichkeit bzw. als gegenwärtige Tatsache, in der der Schmerz in anderen Menschen gegenwärtig ist, auf. Die Überwindung des Schmerzes erscheint also als ein grundlegendes Projekt, das zur Handlung führt. Gerade dies hat die Kommunikation zwischen verschiedenen Körpern und Absichten ermöglicht, aus der heraus die sogenannte ‹soziale Konstitution› entsteht. Die soziale Konstitution ist so geschichtlich wie das menschliche Leben selbst; sie ist ein das menschliche Leben gestaltender Faktor. Ihre Verwandlung ist zwar stetig, aber von anderer Art als die der Natur, da bei dieser die Veränderungen nicht aufgrund von Absichten zustande kommen.

6. Bild, Glaubensgewissheit, Blick und Landschaft
Irgendwann komme ich in mein Zimmer und nehme das Fenster wahr. Ich erkenne es, es ist mir bekannt. Ich habe zwar eine neue Wahrnehmung von ihm, aber ausserdem wirken frühere Wahrnehmungen, die - in Bilder verwandelt - in mir gespeichert sind. Es fällt mir jedoch auf, dass in einer Ecke des Glases ein Sprung ist... «Das war vorher nicht da», sage ich zu mir, wenn ich die neue Wahrnehmung mit dem, was ich von früheren gespeichert habe, vergleiche. Ausserdem bin ich in gewisser Weise überrascht. Das Fenster früherer Wahrnehmungsakte ist in mir gespeichert - aber nicht auf passive Art und Weise wie eine Fotografie, sondern aktiv, wie die Bilder eben sind. Das Gespeicherte ist gegenüber dem, was ich wahrnehme, wirksam, selbst wenn seine Entstehung der Vergangenheit angehört. Es handelt sich um eine ständig vergegenwärtigte Vergangenheit, sie ist immer vorhanden. Bevor ich mein Zimmer betrat, ging ich wie selbstverständlich davon aus, dass sich das Fenster in einwandfreiem Zustand befinden müsste; es ist nicht so, dass ich darüber nachgedacht hätte, sondern ich rechnete einfach damit. Das Fenster als solches war zwar in meinen Gedanken in diesem Moment nicht präsent, aber es war kopräsent. Es war innerhalb des Bereiches von Gegenständen, die sich in meinem Zimmer befinden.
Dank dieser Kopräsenz, dieser vergegenwärtigten und der Wahrnehmung überlagerten Speicherung, kann mein Bewusstsein mehr als gegeben annehmen, als es wahrnimmt. In diesem Phänomen finden wir die grundlegendste Funktionsweise der Glaubensgewissheit. Es ist, als würde ich im erwähnten Beispiel zu mir sagen: «Ich glaubte, dass das Fenster in einwandfreiem Zustand wäre.» Wenn ich beim Betreten meines Zimmers Phänomene vorfinden würde, die einem anderen Bereich von Gegenständen zugehörig sind, wie z.B. ein Motorboot oder ein Kamel, dann würde mir solch eine surrealistische Situation unglaublich erscheinen, und zwar nicht, weil diese Gegenstände nicht existieren, sondern weil ihre Lage ausserhalb des Gebietes der Kopräsenz liegt, ausserhalb der Landschaft, die ich mir zurechtgelegt habe. Diese wird in mir tätig, indem sie jede Sache, die ich wahrnehme, überlagert.
Nun, in jedem gegenwärtigen Augenblick meines Bewusstseins kann ich die Überkreuzung von Speicherungen und auf die Zukunft bezogenen Vorstellungsakten beobachten, die auf kopräsente und strukturierte Weise wirken. Der gegenwärtige Augenblick gestaltet sich in meinem Bewusstsein als ein aktives zeitliches Feld, das drei verschiedene Zeiten beinhaltet. Die Dinge sind hier völlig verschieden zu dem, was mit der Zeit des Kalenders geschieht, in der der heutige Tag weder vom gestrigen noch vom morgigen berührt wird. Im Kalender und auf der Uhr unterscheidet sich das ‹Jetzt› vom ‹Schon-nicht-mehr› und vom ‹Noch-nicht›. Ausserdem sind die Ereignisse hintereinander in linearer Abfolge angeordnet, und ich kann nicht behaupten, es handle sich um eine Struktur, sondern um eine Anordnung innerhalb einer vollständigen Reihe, die ich ‹Kalender› nenne. Aber wir werden auf diesen Punkt zurückkommen, wenn wir das Thema der Geschichtlichkeit und der Zeitlichkeit behandeln.
Für den Moment fahren wir mit dem fort, was wir vorher darüber gesagt haben, dass das Bewusstsein mehr als gegeben annimmt, als es wahrnimmt, und zwar weil es mit dem rechnet, was aus der Vergangenheit als Speicherung kommt und die gegenwärtige Wahrnehmung überlagert. Mit jedem Blick, den ich auf einen Gegenstand werfe, sehe ich ihn auf entstellte Art und Weise. Wir behaupten das nicht in dem Sinn, wie es die moderne Physik erklärt, die mit Deutlichkeit unsere Unfähigkeit darstellt, das Atom und die Wellenlängen, die ober- oder unterhalb unserer Wahrnehmungsschwellen liegen, zu erfassen. Wir sagen dies in Bezugnahme auf die Überlagerung der Wahrnehmung, die durch die Bilder der Speicherungen und der auf die Zukunft gerichteten Vorstellungen zustandekommt. Wenn ich auf dem Land einen wunderschönen Sonnenaufgang betrachte, ist die natürliche Landschaft, die ich beobachte, nicht in sich so festgelegt, sondern ich lege sie so fest, ich gestalte sie aufgrund eines ästhetischen Schönheitsideals, das mir zusagt. Und dieser besondere Frieden, den ich erfahre, erweckt in mir die Illusion, dass ich passiv beobachte, während ich in Wirklichkeit aktiv zahlreiche Inhalte hineinsetze, die den einfachen natürlichen Gegenstand überlagern. Und das hier Gesagte gilt nicht nur für dieses Beispiel, sondern für jeden Blick, den ich auf die Wirklichkeit werfe.

7. Die Generationen und die geschichtlichen Momente
Die soziale Organisation setzt sich fort und erweitert sich, aber dies kann nicht nur aufgrund des Vorhandenseins von sozialen Objekten zustande kommen, die - in der Vergangenheit erzeugt - dazu gebraucht werden, die Gegenwart zu leben und sich in die Zukunft zu projizieren. Eine solche Mechanik ist allzu einfach, um den Prozess der Zivilisation zu erklären. Die Kontinuität ist durch die menschlichen Generationen gegeben, die nicht einfach neben- oder nacheinander bestehen, sondern zur gleichen Zeit zusammenleben, in Wechselwirkung stehen und sich gegenseitig verändern. Diese Generationen, die Kontinuität und Entwicklung ermöglichen, sind dynamische Strukturen. Sie sind die soziale Zeit, die sich in Bewegung befindet. Ohne sie würde die Gesellschaft in einen natürlichen Zustand zurückfallen und somit ihre Eigenschaft als Gesellschaft verlieren.
Andererseits gibt es in jedem Moment der Geschichte Generationen, die aus verschiedenen zeitlichen Ebenen stammen, verschiedene Speicherungen besitzen und verschiedene auf die Zukunft bezogene Vorstellungen haben. Daraus gestaltet jede Generation wiederum verschiedenartige situationsbezogene Landschaften und Glaubensgewissheiten. Der Körper und das Verhalten von Kindern und Greisen weisen für die aktiven Generationen auf eine Gegenwart dessen hin, woher man kommt und wohin man geht. Und innerhalb der beiden Extreme dieser dreifachen Beziehung gibt es wiederum Positionen, die sich nahe der Ober- oder Untergrenze der Zeitlichkeit ihrer Altersschicht befinden. Aber diese Situation bleibt nie bestehen, da die aktiven Generationen altern und die Greise sterben, während sich die Kinder verwandeln und anfangen, aktive Stellungen zu besetzen. Unterdessen wird der Aufbau der Gesellschaft durch neue Geburten kontinuierlich wiederhergestellt.
Wenn durch Abstraktion das unablässige Fliessen ‹angehalten› wird, können wir von einem ‹geschichtlichen Moment› sprechen. Seine Mitglieder, die sich auf demselben gesellschaftlichen Schauplatz befinden, können zwar als ‹Zeitgenossen›, als in ein und derselben Zeit Lebende, betrachtet werden, aber wir beobachten, dass sie nicht gleichaltrig sind: sie haben weder das gleiche Alter noch die gleiche innere Zeitlichkeit bezüglich ihrer Prägungslandschaft, ihrer momentanen Situation und ihres Projektes. In Wirklichkeit stellt sich die Generationendialektik zwischen den direkt benachbarten ‹Altersschichten› ein, die die Führung der gesellschaftlichen Gegenwart je nach ihren Interessen und Glaubensgewissheiten für sich in Anspruch zu nehmen suchen. Es ist die der Gesellschaft innewohnende Zeitlichkeit, die auf strukturierte Weise das geschichtliche Werden erklärt, in dem verschiedene generationsbedingte Anhäufungen in Wechselwirkung stehen. Das geschichtliche Werden wird also nicht durch die lineare Abfolge von Phänomenen erklärt, die in der Art der Zeitfolge des Kalenders nebeneinandergestellt werden, so wie es uns die eine oder andere Geschichtsphilosophie darstellte.
Da ich in einer geschichtlichen Welt, in der ich meine Landschaft gestalte, gesellschaftlich geformt worden bin, interpretiere ich alles das, worauf ich meinen Blick richte. Hier ist zwar meine persönliche Landschaft gegenwärtig, aber auch eine gemeinschaftliche Landschaft, die in diesem Moment von grossen Menschengruppen geteilt wird. Wie wir vorher schon sagten, bestehen zur selben Zeit verschiedene Generationen. In einem Moment - um ein grobes Beispiel zu geben - leben gleichzeitig diejenigen aus der Zeit vor dem Transistor und diejenigen, die von Geburt an vom Computer umgeben waren. Zahlreiche Gestaltungen unterscheiden sich bei beiden Erfahrungswelten, und zwar nicht nur in der Art und Weise des Handelns, sondern auch in der des Denkens und Fühlens... Und das, was bei den gesellschaftlichen Beziehungen und der Produktionsweise einer Epoche funktionierte, funktioniert nun langsam oder manchmal ganz abrupt nicht mehr. Man erwartete ein Ergebnis in der Zukunft, und diese Zukunft ist eingetreten, aber die Dinge haben sich nicht so entwickelt, wie man sie geplant hatte. Weder jene Handlung noch jene Sensibilität noch jene Ideologie stimmt mit der neuen Landschaft, die sich gesellschaftlich durchsetzt, überein.

8. Die Gewalt, der Staat und die Machtkonzentration
Aufgrund seiner Öffnung und seiner Freiheit, zwischen Situationen auszuwählen, verzögerte Antworten zu geben und sich die Zukunft vorzustellen, kann der Mensch sich auch selbst verneinen, Aspekte seines Körpers verneinen, diesen sogar vollständig verneinen - wie im Falle des Selbstmordes - oder auch andere Menschen verneinen. Diese Freiheit hat es ermöglicht, dass einige sich illegitim des sozialen Ganzen bemächtigten, d.h., sie verneinen die Freiheit und die Absichtlichkeit der anderen, indem sie sie zu Prothesen, zu Instrumenten ihrer eigenen Absichten reduzieren. Das ist die Grundlage der Diskriminierung, und ihre Vorgehensweise ist die körperliche, die wirtschaftliche, die rassistische und die religiöse Gewalt. Die Gewalt kann sich dank der Beherrschung des sozialen Regulations- und Kontrollapparates, das heisst des Staates, errichten und fortpflanzen. Infolgedessen bedarf die soziale Organisation einer fortschrittlichen Art der Koordination, die jegliche Konzentration von Macht unterbindet, sei sie privat oder staatlich. Wenn behauptet wird, dass die Privatisierung aller Wirtschaftsbereiche die Gesellschaft vor der Macht des Staates rettet, unterschlägt man das wirkliche Problem, nämlich die Entstehung von Monopolen oder Oligopolen, die die Macht von den Händen des Staates in die Hände eines Parallelstaates verlagern. In einem solchen Parallelstaat hat nicht mehr eine bürokratische Minderheit die Oberhand, sondern jene besondere Minderheit, die den Prozess der Konzentration vorantreibt.
Die verschiedenartigen sozialen Strukturen - von den primitivsten bis zu den raffiniertesten - neigen zur schrittweisen Konzentration, bis sie stagnieren. Dann beginnt ihre Auflösungsphase, von der neue Umstrukturierungsprozesse auf einer höheren Ebene ausgehen. Vom Anfang der Geschichte an zielt die Gesellschaft auf die weltweite Verflechtung ab. So wird man zu einer Epoche maximaler Konzentration willkürlicher Macht gelangen, die Merkmale eines weltweiten Imperiums besitzen wird und an die Grenzen ihrer Ausbreitungsmöglichkeiten gestossen sein wird. Der Zusammenbruch des globalen Systems wird wegen der Logik stattfinden, die der strukturellen Dynamik jedes geschlossenen Systems eigen ist, in welchem die Unordnung notwendigerweise zuzunehmen neigt. Aber genauso, wie der Prozess der Strukturen zur weltweiten Verflechtung neigt, neigt der Prozess in Richtung einer menschlichen Welt zur Öffnung des Menschen, zur Überwindung des Staates und des Parallelstaates. Er neigt zur Dezentralisierung und zur Entflechtung zugunsten einer höherentwickelten Koordinierung zwischen autonomen gesellschaftlichen Bereichen. Dass alles in einem Chaos und einem Neubeginn der Zivilisation endet oder eine neue Etappe fortschreitender Menschlichkeit anfängt, wird nicht mehr von unwiderruflichen mechanischen Bestimmungen abhängen, sondern von der Absicht der Individuen und Völker, von ihrem Engagement für die Wandlung der Welt und von einer Ethik der Freiheit, die per Definition nicht aufgezwungen sein kann. Und man wird dann nicht mehr eine formelle Demokratie anstreben, die - wie es heute noch der Fall ist - von den Interessen verschiedener Gruppierungen beherrscht ist, sondern eine reale Demokratie, in der die direkte Beteiligung sofort verwirklicht werden kann, und zwar dank der Kommunikationstechnologie, die heute bereits in der Lage wäre, dies zu ermöglichen.

9. Der menschliche Prozess
Erwartungsgemäss haben diejenigen, die das Mensch-Sein von anderen abgewertet haben, damit neuen Schmerz und neues Leiden geschaffen. Dadurch wurde innerhalb der Gesellschaft der alte Kampf gegen die Widrigkeiten der Natur wiederbelebt. Aber diesmal stehen diejenigen, die andere, die Gesellschaft und die Geschichte ‹naturalisieren› möchten, auf der einen Seite, und die Unterdrückten, die ihr Mensch-Sein in Anspruch nehmen, indem sie die Welt menschlich machen, auf der anderen Seite. Deshalb heisst ‹menschlich machen› aus der Verdinglichung herauszutreten, um die Absichtlichkeit jedes Menschen und den Vorrang der Zukunft über die gegenwärtige Situation zu bekräftigen. Es ist das Bild und die Vorstellung einer möglichen und besseren Zukunft, die die Veränderung der Gegenwart erlaubt und die jede Revolution und jeden Wandel ermöglicht. Demzufolge ist der Druck der unterdrückenden Bedingungen nicht ausreichend, um eine Veränderung in Gang zu setzen, sondern es ist notwendig, zu erkennen, dass solch eine Veränderung möglich ist und dass sie von der menschlichen Handlung abhängt. Dieser Kampf spielt sich nicht zwischen mechanischen Kräften ab. Er ist kein natürlicher Reflex. Er ist ein Kampf zwischen menschlichen Absichten. Und genau das erlaubt es uns, von Unterdrückten und Unterdrückern zu sprechen, von Gerechten und Ungerechten, von Helden und Feiglingen. Er stellt die einzige Möglichkeit dar, die soziale Solidarität und die Verpflichtung zur Befreiung der Diskriminierten - seien dies Minderheiten oder Mehrheiten - sinnvoll auszuüben.
Ausführliche Betrachtungen bezüglich der Gewalt, des Staates, der Institutionen, des Gesetzes und der Religion sind in der Schrift Die menschliche Landschaft, die Bestandteil des Buches Die Erde menschlich machen ist, enthalten. Um den Rahmen dieses Briefes nicht zu sprengen, verweise ich auf das erwähnte Buch.
Bezüglich des Sinns der menschlichen Handlungen glaube ich nicht, dass es sich um sinnlose ‹Zuckungen› oder ‹nutzlose Leidenschaften› handelt, die in der Absurdität der Auflösung enden werden. Ich glaube, dass das Schicksal der Menschheit von der Absicht geleitet wird, die sich - indem sie in den Völkern immer mehr zu Bewusstsein gelangt - einen Weg in Richtung einer universellen menschlichen Nation bahnt. Aufgrund des vorher Erwähnten ist es offensichtlich, dass die menschliche Existenz nicht in einem Teufelskreis des Sich-Verschliessens ihren Anfang und ihr Ende findet und dass ein Leben, das die Kohärenz anstrebt, sich öffnen muss. Diese Öffnung besteht darin, seinen Einfluss auf Personen und Bereiche zu erweitern, und zwar indem man nicht nur eine Auffassung oder einzelne Ideen verbreitet, sondern gezielte Handlungen, die die Freiheit zunehmend vergrössern.
Im nächsten Brief werden wir uns von diesen streng auf unsere Lehre bezogenen Themen bewusst entfernen, um uns erneut der jetzigen Situation sowie der persönlichen Handlung in der sozialen Welt zu widmen.

Empfangt mit diesem Brief einen herzlichen Gruss


Silo, 19.12.91

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