Achter Brief an meine Freunde

Liebe Freunde,
wie bereits im letzten Brief angekündigt, werde ich im vorliegenden einige Punkte bezüglich der Armeen aufgreifen. Selbstverständlich konzentriert sich das Interesse dieses Schreibens auf die Beziehung zwischen den Streitkräften, die politische Macht und die Gesellschaft. Als Grundlage werde ich das Dokument nehmen, das wir vor drei Monaten in Moskau diskutiert haben (mit dem Titel Die Notwendigkeit einer humanistischen Haltung in den zeitgenössischen Streitkräften - Internationale Konferenz über die Humanisierung der militärischen Aktivitäten und die Reform der Streitkräfte, unter der Schirmherrschaft des Verteidigungsministeriums der GUS, Moskau, 24.-28.5. 1993). Ich werde von den in diesem Originaldokument dargelegten Konzepten nur bei der Erörterung der Rolle des Militärs im revolutionären Prozess abweichen. Dieses Thema wird es mir erlauben, einige Ideen zu vervollständigen, die ich schon bei anderer Gelegenheit umrissen habe.

1. Die Notwendigkeit einer Neudefinierung der Rolle der Streitkräfte
Die Streitkräfte versuchen heute, ihre Rolle neu zu definieren. Die Notwendigkeit hierzu ergab sich im Anschluss an die Initiative zur proportionalen und progressiven Abrüstung, die Ende der 80er Jahre von der Sowjetunion ausging. Das Nachlassen der Spannung, die zwischen den Supermächten herrschte, rief eine Wende im Verteidigungskonzept der wichtigsten Länder hervor. Das allmähliche Ersetzen der politisch-militärischen Blöcke (insbesondere des Warschauer Paktes) durch ein System von relativ kooperativen Beziehungen hat jedoch zentrifugale Kräfte aktiviert, die zu neuen Konfrontationen an verschiedenen Orten des Erdballs führen. Als der Kalte Krieg in vollem Gange war, gab es häufige und oft andauernde Konflikte in begrenzten Gebieten. Aber im gegenwärtigen Moment hat sich der Charakter solcher Konflikte verändert, denn sie drohen sich auf dem Balkan, in der islamischen Welt und in verschiedenen Zonen Asiens und Afrikas auszudehnen.
Die Grenzangelegenheiten, die früher die Streitkräfte benachbarter Länder stark beschäftigten, nehmen heute, bedingt durch die separatistischen Tendenzen im Inneren einiger Länder, eine andere Richtung an. Die wirtschaftlichen, ethnischen und sprachlichen Ungleichheiten tendieren dahin, Grenzen zu verändern, die man für unabänderlich hielt, während gleichzeitig in grossem Umfang Völkerwanderungen stattfinden. Es handelt sich hierbei um Menschengruppen, die sich aufmachen, um aus hoffnungslosen Situationen zu flüchten, oder die versuchen, andere Menschengruppen in bestimmten Gebieten einzusperren oder sie von dort zu vertreiben. Diese und andere Phänomene weisen auf tiefgreifende Veränderungen besonders in der Struktur und der Konzeption des Staates hin: Auf der einen Seite wohnen wir einem Prozess der wirtschaftlichen und politischen Regionalisierung bei, auf der anderen Seite beobachten wir die wachsende Zwietracht im Inneren der Länder, die auf diese Regionalisierung zusteuern. Es ist so, als ob der Nationalstaat, dessen Konzept vor etwa 200 Jahren entworfen wurde, die Schläge, die ihm die multinationalen Kräfte von oben und die separatistischen Kräfte von unten verpassen, nicht mehr aushalten würde. Er wird immer abhängiger, immer gebundener an die regionale Wirtschaft und ist immer mehr in den Handelskrieg mit anderen Regionen verwickelt. So erleidet der Staat, was die Kontrolle der Situation angeht, eine noch nie dagewesene Krise. Seine Verfassungen werden geändert, um dem Abwandern von Kapital und Finanzmitteln Raum zu geben. Seine Zivil- und Handelsgesetze sind veraltet. Sogar die Straftatbestände wandeln sich, wenn heute ein Bürger seiner Freiheit beraubt werden kann, dessen Delikt in einem anderen Land geahndet wird, von Richtern einer anderen Nationalität und auf der Grundlage fremder Gesetze. So verschwindet das alte Konzept der nationalen Souveränität merklich. Der ganze juristisch-politische Apparat des Staates sowie seine Institutionen und das Personal, welches ihm unmittelbar oder mittelbar zu Diensten steht, erleiden die Auswirkungen dieser allgemeinen Krise.
Das ist auch die Situation, die die Streitkräfte erleben, denen man einmal die Rolle der Aufrechterhaltung der Souveränität und der allgemeinen Sicherheit zugewiesen hat. Sind einmal die Erziehung, das Gesundheitswesen, die Kommunikation, die natürlichen Ressourcen bis hin zu wichtigen Bereichen der bürgerlichen Sicherheit privatisiert, sind die Güter und Dienstleistungen privatisiert, dann verringert sich die Bedeutung des traditionellen Staates. Wenn die Verwaltung und die Ressourcen eines Landes aus dem Bereich der öffentlichen Kontrolle geraten, ist es folgerichtig, zu denken, dass die Justiz demselben Prozess folgen wird und man den Streitkräften die Rolle einer privaten Miliz zuweisen wird, die zur Verteidigung einheimischer oder multinationaler wirtschaftlicher Interessen bestimmt ist. Diese Tendenzen haben in letzter Zeit innerhalb der Länder zugenommen.

2. Das Verbleiben von aggressiven Faktoren in der Etappe der Entspannung
Aber nach aussen hin ist die Aggressivität der Mächte, die damals den Kalten Krieg beendet haben, nicht verschwunden. Auch heute noch gibt es Verletzungen der Lufträume und Seewege, fahrlässige Annäherung an weit entfernte Territorien, Einmärsche, Einrichtung von Stützpunkten, Festigung von Militärpakten, Kriege und Besetzung von fremden Territorien, um die Kontrolle über Navigationswege zu erlangen oder in den Besitz natürlicher Rohstoffquellen zu kommen. Deren Vorläufer, die Kriege in Korea, Vietnam, Laos und Kambodscha, die Krise in Suez, in Berlin und Kuba, die Invasionen in Grenada und Panama und der Überfall auf Tripolis haben der Welt die Unverhältnismässigkeit der Kriegshandlungen gezeigt, die so oft in wehrlosen Ländern durchgeführt wurden und die zur Stunde der Abrüstungsgespräche schwer wiegen. Diesen Taten kommt eine besondere Bedeutung zu, weil sie in Fällen wie dem Golfkrieg an den Flanken sehr wichtiger Länder stattfinden, die diese Manöver als schädlich für ihre Sicherheit interpretieren könnten. Solche Ausschreitungen führen zu schädlichen Nebeneffekten, indem sie die interne Front von Kräften verstärken, die ihre Regierungen als unfähig verurteilen, diese Vormärsche zu stoppen. Dies kann selbstverständlich sogar das Klima des internationalen Friedens gefährden, das im gegenwärtigen Moment so notwendig ist.

3. Innere Sicherheit und militärische Umstrukturierung
Was die innere Sicherheit angeht, ist es notwendig, zwei Probleme zu erwähnen, die sich am Horizont der unmittelbaren Ereignisse abzuzeichnen scheinen: die sozialen Explosionen und der Terrorismus.
Wenn die Arbeitslosigkeit und die Rezession in den Industrieländern dahin tendieren, zuzunehmen, können diese Länder Schauplatz von Wirrungen oder Ausschreitungen werden. So würde sich in gewissem Sinne das Bild, das sich in vorangegangenen Jahrzehnten bot, umkehren. Damals entwickelte sich der Konflikt in den Peripherien eines Zentrums, das währenddessen ohne grössere Probleme weiterwuchs. Ereignisse wie die in Los Angeles im vorigen Jahr könnten sich über eine Stadt hinaus und sogar in andere Länder ausdehnen. Schliesslich zeigt sich das Phänomen des Terrorismus als Gefahr von grösserem Ausmass, da heute Individuen und einigermassen spezialisierte Gruppen über eine relativ hohe Feuerkraft verfügen können. Diese Bedrohung, die sich sogar durch nukleare oder hochexplosive konventionelle Sprengkörper ausdrücken könnte, berührt auch andere Gebiete wie das der chemischen und der bakteriologischen Waffen, die wenig kosten und einfach herzustellen sind.
In Anbetracht des instabilen Panoramas der heutigen Welt sind die Besorgnisse der Streitkräfte also gross und zahlreich. Andererseits müssen sie nicht nur die strategischen und politischen Probleme in Betracht ziehen, sondern auch interne Themen wie die Umstrukturierung, die Auflösung grosser Truppenkontingente, die Form der Rekrutierung und Ausbildung, die Erneuerung von Material, die technologische Modernisierung und - eigentlich an erster Stelle - die finanziellen Mittel. Aber auch wenn man die Rahmenprobleme, die wir in den vorangegangenen Absätzen dargelegt haben, von Grund auf verstehen muss, muss man hinzufügen, dass keines davon vollständig gelöst werden kann, wenn nicht klar bleibt, welche Hauptfunktion die Armeen erfüllen sollen. Denn letzten Endes ist es die politische Macht, die den Streitkräften ihre Orientierung gibt, und sie handeln auf der Grundlage dieser Orientierung.

4. Revision der Souveränitäts- und Sicherheitskonzepte
In der traditionellen Auffassung wurde den Streitkräften die Funktion zugewiesen, die Souveränität und die Sicherheit der Länder zu gewährleisten, wobei sie im Einklang mit dem Mandat der konstituierten Mächte Gewalt anwenden können. Auf diese Weise überträgt sich das Gewaltmonopol, das dem Staat zukommt, auf die Militärverbände. Aber hier liegt schon ein erster Diskussionspunkt: Was ist unter ‹Souveränität› und was ist unter ‹Sicherheit› zu verstehen?
Wenn diese beiden - oder, moderner ausgedrückt, der ‹Fortschritt› eines Landes - extraterritoriale Versorgungsquellen, einen freien Zugang zu allen Schiffahrtswegen zum Schutz des Gütertransports, die Kontrolle strategischer Punkte zu demselben Zweck und die Besetzung weit entfernter Gebiete benötigen, dann handelt es sich um die kolonialistische oder neokolonialistische Theorie und Praxis. Im Kolonialismus bestand die Funktion der Armeen primär darin, zunächst den Interessen der Krone jener Epoche und später den privaten Unternehmen, die spezielle Konzessionen der politischen Macht im Gegenzug für angemessene Gewinnbeteiligungen erhielten, den Weg zu ebnen. Die Gesetzwidrigkeit dieses Systems wurde durch die vermeintliche Barbarei der eroberten Völker gerechtfertigt, indem man behauptete, sie seien unfähig, sich selbst eine geeignete Verwaltung zu geben. Die in dieser Etappe herrschende Ideologie heiligte den Kolonialismus als das ‹die Zivilisation bringende› System schlechthin.
Zu Zeiten des napoleonischen Imperialismus, als die Armee sowieso die politische Macht innehatte, bestand ihre Funktion darin, Grenzen zu erweitern. Das erklärte Ziel dabei war, die von den Tyranneien unterdrückten Völker durch Kriegshandlungen und die Errichtung eines Regierungs- und Rechtssystems, welches in seiner Gesetzgebung die Freiheit, die Gleichheit und die Brüderlichkeit heiligte, zu erretten. Die entsprechende Ideologie rechtfertigte die imperialistische Ausbreitung auf der Grundlage des Kriteriums der ‹Notwendigkeit› einer von der demokratischen Revolution konstituierten Macht. Diese richtete sich gegen die illegalen Monarchien, welche auf der Ungleichheit basierten und die ausserdem gemeinsam Front machten, um die Revolution zu ersticken.
In jüngster Zeit wurde - den Lehren von Klausewitz folgend - der Krieg als die einfache Fortsetzung der Politik verstanden. Den Staat als treibende Kraft dieser Politik sah man als den Regierungsapparat einer Gesellschaft an, die in gewissen geographischen Grenzen liegt. Von dort aus gelangte man zu - von den Geopolitologen bevorzugten - Definitionen, in denen die Grenzen als ‹die Haut des Staates› erscheinen. In dieser organologischen Konzeption zieht sich diese ‹Haut› zusammen oder dehnt sich aus - je nach der Vitalität der betreffenden Länder. So muss sie sich mit der Entwicklung einer Gemeinschaft, die ‹Lebensraum› fordert, ausdehnen, je nach ihrer demographischen oder wirtschaftlichen Konzentration. Von dieser Perspektive aus liegt die Funktion der Armee darin, Raum zu gewinnen - entsprechend den Forderungen dieser Politik der Sicherheit und Souveränität, die gegenüber den Bedürfnissen anderer angrenzender Länder vorrangig ist. Hier ruft dann die herrschende Ideologie die Ungleichheit der Bedürfnisse aus, die die einzelnen Gemeinschaften je nach ihrer Lebenskraft erfahren. Diese zoologische Sichtweise des Kampfes um das Überleben des Stärkeren erinnert an die Auffassungen des Darwinismus, die hier illegitimerweise auf die politische und militärische Praxis übertragen werden.

5. Die Legalität und die Grenzen der herrschenden Macht
Heutzutage hängen viele Aspekte dieser drei Auffassungen in der Luft. Wir haben sie benutzt, um beispielhaft aufzuzeigen, wie die Armeen der politischen Macht unterstehen und wie sie sich dem Diktat der politischen Macht fügen - je nachdem, was diese gerade unter Sicherheit und Souveränität versteht. Wenn die Funktion der Armee also die ist, dem Staat bei der Aufrechterhaltung seiner Sicherheit und Souveränität zu dienen, und wenn die Konzeption dieser beiden Punkte sich von Regierung zu Regierung ändert, so haben sich die Streitkräfte folglich danach zu richten. Lässt dies irgendeine Einschränkung oder Ausnahme zu?
Man beobachtet ganz deutlich zwei Ausnahmesituationen: 1. jene, bei der sich die politische Macht illegitim gebildet hat und die zivilen Mittel, diese anormale Situation zu ändern, ausgeschöpft sind, und 2. jene, bei der sich die politische Macht legal gebildet hat, sich aber in ihrer Ausübung in eine illegale Macht verwandelt und die zivilen Mittel, diese anormale Situation zu ändern, erschöpft sind. In beiden Fällen haben die Streitkräfte die Aufgabe, die unterbrochene Legalität wiederherzustellen, was dem gleichkommt, die Handlungen fortzuführen, die auf zivilem Wege nicht abgeschlossen werden konnten. In diesen Situationen ist die Armee der Legalität verpflichtet und nicht der herrschenden Macht.
Es handelt sich also nicht darum, einen beratenden Status der Armee zu fördern, sondern die vorangegangene Unterbrechung der Legalität hervorzuheben, die von einer herrschenden Macht herbeigeführt wurde, deren Ursprung kriminell ist oder die sich in eine kriminelle Macht verwandelt hat. Die Frage, die man stellen muss, ist folgende: Woher entstammt die Legalität, und was sind ihre Merkmale? Wir antworten, dass die Legalität aus dem Volk kommt, das sich eine bestimmte Art von Staat und eine bestimmte Art von grundlegenden Gesetzen gegeben hat, denen sich die Bürger beugen müssen. Und im Extremfall, wenn das Volk entscheiden würde, diese Art von Staat und diese Art von Gesetzen zu ändern, steht es ihm zu, dies zu tun, und es kann keine Staatsstruktur und kein legales System über dieser Entscheidung geben. Dieser Punkt führt uns zur Betrachtung der revolutionären Tat, die wir später behandeln werden.

6. Die militärische Verantwortung gegenüber der politischen Macht
Man muss hervorheben, dass die Militärverbände von Bürgern gebildet werden sollten, die ihre Pflichten hinsichtlich der Legalität der etablierten Macht in verantwortlicher Weise erfüllen. Hierbei ist davon auszugehen, dass die etablierte Macht auf der Grundlage einer Demokratie funktioniert, in der der Wille der Mehrheit durch Wahlen und Ablösung der Volksrepräsentanten respektiert wird. Ebenso müssen auch die Minderheiten sowie die Trennung und Unabhängigkeit der Gewalten auf gesetzlich festgeschriebene Weise respektiert werden. Wenn dem so ist, dann sind es nicht die Streitkräfte, die über die Erfolge oder die Fehler dieser Regierung zu beraten haben. Genausowenig können die Streitkräfte im Fall der Machtübernahme eines illegalen Regimes dieses automatisch stützen und sich dabei auf eine ‹Gehorsamspflicht› gegenüber diesem Regime berufen. Selbst wenn es zum internationalen Konflikt kommt, dürfen diese Streitkräfte auch keinen Völkermord praktizieren, indem sie den Anordnungen einer wegen der Anormalität der Situation fiebernden Macht folgen. Denn wenn die Menschenrechte nicht über jedem anderen Recht stehen, ist nicht zu verstehen, warum es eine soziale Organisation oder einen Staat gibt. Und niemand kann sich auf eine ‹Gehorsamspflicht› berufen, wenn es um Mord, Folter und Erniedrigung des Menschen geht. Wenn die nach dem Zweiten Weltkrieg abgehaltenen Gerichtsverhandlungen etwas gelehrt haben, dann die Erkenntnis, dass der Soldat Verantwortung als Mensch hat - selbst in der Grenzsituation des Krieges.
An diesem Punkt kann man sich fragen: Ist die Armee nicht eine Institution, deren Ausbildung, Disziplin und Ausrüstung sie in einen primär auf Zerstörung ausgerichteten Faktor verwandelt? Wir antworten, dass diese Strukturen schon lange vor dem heutigen Datum so angelegt wurden und dass wir - unabhängig von der Aversion, die wir gegenüber jeder Form von Gewalt empfinden - keinesfalls das Verschwinden oder die unilaterale Abrüstung von Armeen vorschlagen können, da dies ein Vakuum schaffen würde, das von anderen aggressiven Kräften gefüllt werden könnte. Diese Fälle haben wir schon vorher erwähnt, als wir uns auf die Attacken auf wehrlose Länder bezogen. Es sind die Streitkräfte selbst, die eine wichtige Mission zu erfüllen haben, indem sie die Philosophie und die Praxis der proportionalen und fortschreitenden Abrüstung nicht blockieren und darüber hinaus die Kameraden anderer Länder in diese Richtung inspirieren und klarstellen, dass die Funktion des Militärs in der heutigen Welt die ist, Katastrophen und blinden Gehorsam zu vermeiden, die auf die Befehle von illegalen Regierungen zurückgehen, die nicht dem Volksmandat folgen. Der grösste Dienst, den die Streitkräfte also ihren Ländern und der ganzen Menschheit erweisen können, wird der sein, zu verhindern, dass es Kriege gibt. Dieser Entwurf, der utopisch erscheinen könnte, wird im Augenblick durch die Kraft der Ereignisse unterstützt, denn diese zeigen, dass die globale oder unilaterale Zunahme der Kriegsmacht wenig sinnvoll ist und überdies eine Gefahr für alle darstellt.
Ich möchte gerne auf das Thema der militärischen Verantwortung anhand eines umgekehrten Beispiels zurückkommen. Während der Zeit des Kalten Krieges wurde im Westen eine doppelte Botschaft wiederholt: Einerseits bildeten sich die NATO und andere Blöcke, um einen Lebensstil aufrechtzuerhalten, der vom sowjetischen und gelegentlich vom chinesischen Kommunismus bedroht wurde. Andererseits wurden Militäraktionen in entfernten Gebieten durchgeführt, um die ‹Interessen› der Mächte zu schützen. In Lateinamerika wurde - wegen der Gefahr umstürzlerischer Aktivitäten im Inneren der Länder - dem Staatsstreich der einheimischen Armeen der Vorzug gegeben. Die dortigen Streitkräfte haben der politischen Macht nicht mehr gehorcht, und sie erhoben sich gegen jedes Recht und gegen jede Verfassung. Ein ganzer Kontinent wurde praktisch militarisiert, indem er der sogenannten ‹Doktrin der Nationalen Sicherheit› folgte. Das Nachspiel von Tod und Rückständigkeit, das jene Diktaturen hinterlassen haben, wurde eigenartigerweise mit der Befehlskette gerechtfertigt, die auf der Idee der ‹Gehorsamspflicht› beruht. Mittels dieser Idee wurde erklärt, dass in der Militärdisziplin den Befehlen der unmittelbaren Leitung Folge geleistet werden muss. Diese Auffassung, die an die Rechtfertigungen der Völkermorde des Nazismus erinnern lässt, ist ein Punkt, der zur Stunde der Diskussion über die Grenzen der Militärdisziplin in Betracht gezogen werden muss. Unser Gesichtspunkt bezüglich dieser Angelegenheit ist - wie wir schon erwähnt haben - folgender: Wenn die Armee die Abhängigkeit von der politischen Macht durchbricht, wird sie zu einer irregulären Kraft, zu einer bewaffneten Bande, die sich ausserhalb des Gesetzes bewegt. Diese Situation ist klar, aber sie lässt eine Ausnahme zu: den militärischen Aufstand gegen eine illegal etablierte politische Macht oder eine, die eine aufrührerische Situation provoziert hat. Die Streitkräfte können sich nicht auf eine ‹Gehorsamspflicht› gegenüber einer illegalen Macht berufen, weil sie sich dann in eine Kraft verwandeln, die der Aufrechterhaltung dieser Irregularität dient. Ebensowenig dürfen sie unter anderen Umständen einen Militärputsch durchführen und so der Funktion, dem Volksmandat zu entsprechen, entfliehen. Dies alles betrifft die innere Ordnung. Auf das internationale Kriegsgeschehen bezogen, bedeutet es, dass die Streitkräfte eines Landes der Zivilbevölkerung des feindlichen Landes nicht nach dem Leben trachten dürfen.

7. Militärische Umstrukturierung
Unser Standpunkt bezüglich der Rekrutierung von Bürgern ist der, die Wehrpflicht durch einen freiwilligen Militärdienst zu ersetzen, da ein solches System eine bessere Ausbildung der Berufssoldaten erlauben wird. Natürlich muss diese Truppenreduzierung auch von einer Verringerung des Offiziers- und Führungspersonals begleitet werden. Es ist auch klar, dass keine angemessene Umstrukturierung durchgeführt werden kann, ohne auf die persönlichen, familiären und sozialen Probleme der Soldaten zu achten. Diese müssen in vielen Armeen angegangen werden, die bis heute eine überdimensionale Struktur aufrechterhalten. Die Schwierigkeiten bei der Wohnungs- und Arbeitsbeschaffung für diese Kontingente und deren sozialer Wiedereingliederung können ausgeglichen werden, wenn sie während der Dauer dieser Neuorientierung eine flexible Beziehung zum Militär aufrechterhalten. Bei der Umstrukturierung, die heute in verschiedenen Teilen der Welt stattfindet, muss man in erster Linie das System des Landes, in dem sie durchgeführt wird, berücksichtigen. Natürlich hat ein zentralistisches System andere Charakteristiken als ein föderatives oder als das verschiedener Länder, die in einer regionalen Gemeinschaft zusammenfinden. Von unserem Standpunkt aus, der das föderative und für einen regionalen Zusammenschluss offene System bevorzugt, werden für den richtigen Entwurf der Umstrukturierung solide und dauerhafte Verpflichtungen benötigt, die die Kontinuität des Projektes gewährleisten. Wenn es keinen klaren Willen der beteiligten Seiten in dieser Richtung gibt, wird die Umstrukturierung nicht möglich sein, weil der finanzielle Beitrag jedes Teilnehmers dem politischen Hin und Her unterworfen sein wird. In diesem Fall können die Bündnistruppen nur formell existieren, und ihre militärischen Kontingente werden nur die simple Summe der einzelnen Potentiale der an diesem Bündnis beteiligten Gemeinschaften sein. Dies wird auch Probleme bezüglich der einheitlichen Befehlsgewalt mit sich bringen, die schwierig zu lösen sind. Letztendlich wird es die politische Orientierung sein, die die Richtlinien vorgeben muss. Und in dieser Situation bedürfen die einzelnen Streitkräfte einer sehr präzisen und koordinierten Führung.
Ein Problem von relativer Bedeutung bei der Umstrukturierung bezieht sich auf gewisse Aspekte der Sicherheitskräfte. Wenn sie nicht militarisiert sind, sorgen die Sicherheitskräfte für die innere Ordnung und den Schutz des Bürgers. Sie sind aber für gewöhnlich auch in Kontrolloperationen eingebunden, die sehr weit von dem Ziel entfernt sind, für das sie geschaffen wurden. Im Organigramm vieler Länder unterstehen sie direkt den politischen Ressorts wie dem Innenministerium, das sich deutlich vom Kriegs- oder Verteidigungsministerium unterscheidet. Andererseits, wenn man die Polizeikräfte als Diener des Bürgertums versteht, die dazu bereit sind, eine juristische Ordnung einzuhalten, die den Einwohnern eines Landes nicht schadet, dann besitzen sie einen nebengeordneten Charakter und sind der Rechtsprechung der Judikative unterworfen. Aber oft führen sie in ihrer Eigenschaft als öffentliche Gewalt Operationen durch, die sie in den Augen der Bevölkerung als militärische Kräfte erscheinen lassen. Die Unzweckmässigkeit einer solchen Verwirrung ist ganz offensichtlich, und es ist von Interesse für die Streitkräfte, dass diese Unterscheidungen klar bleiben. Etwas Ähnliches geschieht mit den verschiedenen, ineinander verschachtelten und aufeinandergesetzten Geheim- und Nachrichtendiensten eines Staates, die auch nichts mit dem Militär zu tun haben. Die Armeen bedürfen eines angemessenen Informationssystems, das ihnen erlaubt, mit Effizienz zu handeln. Dieses System darf in nichts den Mechanismen zur Kontrolle und Verfolgung der Bürger ähneln, weil sich seine Funktion auf die Sicherheit der Nation bezieht und nicht auf die ideologische Anerkennung oder Missbilligung der jeweiligen Regierung.

8. Die militärische Haltung im revolutionären Prozess
Man nimmt an, dass in einer Demokratie die Macht von der Volkssouveränität ausgeht. Die Bildung eines Staates wie auch der Organismen, die von ihm abhängen, leitet sich aus derselben Quelle ab. So erfüllt die Armee die ihr vom Staat übergebene Funktion, die Souveränität zu verteidigen und den Bewohnern eines Landes Sicherheit zu gewährleisten. Selbstverständlich kann es Abweichungen hiervon geben, wenn die Armee oder eine Gruppe illegal die Macht besetzen, wie wir das schon vorher betrachtet haben. Aber wie wir auch erwähnt haben, kann der Extremfall eintreten, bei dem das Volk entscheidet, diese Art von Staat oder Gesetzen zu ändern, d.h. diese Art von System. Dem Volk steht es zu, dies zu tun, und es kann keine staatliche Struktur und kein legales System über dieser Entscheidung geben. Ohne Zweifel sehen die Verfassungen vieler Länder die Möglichkeit vor, diese selbst durch Volksentscheid verändern zu können. Auf diese Weise könnte eine revolutionäre Veränderung stattfinden, in der die formelle Demokratie der realen Demokratie Platz macht. Wenn man aber diese Möglichkeit versperrte, würde man den eigentlichen Ursprung, aus dem jede Legalität stammt, verneinen. Wenn unter diesen Umständen alle zivilen Mittel ausgeschöpft sind, ist es die Verpflichtung der Armee, diesen Willen zur Veränderung zu erfüllen und eine schon illegal an der Macht befindliche Gruppe abzusetzen. Auf diese Weise, d.h. durch die militärische Intervention, erreicht man die Schaffung revolutionärer Bedingungen, unter denen das Volk eine neue Art sozialer Organisation und ein neues Rechtssystem in Gang setzt. Es ist nicht notwendig, die Unterschiede zwischen der militärischen Intervention, die zum Ziel hat, dem Volk seine entrissene Souveränität zurückzugeben, und dem blossen Militärputsch, der die vom Volksmandat eingesetzte Legalität zerstört, aufzuzeigen. Im Einklang mit derselben Idee fordert die Legalität, dass das Volksmandat respektiert wird - selbst in dem Fall, dass das Volk revolutionäre Veränderungen vorschlägt. Warum sollten die Mehrheiten nicht ihre Wünsche zur Strukturveränderung ausdrücken? Und warum sollten die Minderheiten nicht die Möglichkeit haben, politisch zu arbeiten, um eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft zu erreichen? Durch Unterdrückung oder Gewalt den Willen zur revolutionären Veränderung zu verneinen, gefährdet ernsthaft die Legalität des Systems der aktuellen formellen Demokratien.
Man wird wohl gemerkt haben, dass wir keine auf militärische Strategien, Doktrinen, Technologie oder Organisation bezogene Themen angesprochen haben. Das kann auch nicht anders sein. Wir haben einen humanistischen Standpunkt zum Thema der Streitkräfte in Verbindung mit der politischen Macht und der Gesellschaft festgelegt. Es sind die Militärs, die eine enorme theoretische Arbeit und deren Umsetzung in der Praxis vor sich haben, um die aktuell gültigen Modelle diesem so speziellen Moment, in dem die Welt lebt, anzupassen. Die Meinung der Gesellschaft und das echte Interesse der Streitkräfte, diese Meinung zu kennen - auch wenn sie nicht spezialisiert ist -, sind von fundamentaler Wichtigkeit. Gleichzeitig sind eine lebendige Beziehung zwischen Armeeangehörigen verschiedener Länder und die offene Diskussion mit der Zivilbevölkerung wichtige Schritte im Dienste der Anerkennung der Meinungsvielfalt. Die Isolation der Armeen voneinander und ihre Abschottung gegenüber dem Volkswillen sind einer Epoche eigen, in der die Mobilität von Menschen und der Warenaustausch beschränkt war. Die Welt hat sich für alle geändert, auch für die Streitkräfte.

9. Betrachtungen über die Armeen und die Revolution
Heute drängen sich zwei Meinungen auf, die uns besonders interessieren. Die erste besagt, dass die Epoche der Revolutionen vorüber ist, die zweite, dass die militärische Einflussnahme auf die politischen Entscheidungsprozesse sich allmählich verringert hat. Man geht zudem davon aus, dass nur in gewissen rückständigen oder unorganisierten Ländern jene drohenden Überbleibsel der Vergangenheit weiterbestehen. Auf der anderen Seite denkt man, dass das System der internationalen Beziehungen einen immer solideren Charakter annimmt und somit immer mehr Gewicht bekommt, bis schliesslich jene alten Irregularitäten zur Vernunft kommen. Zur Frage der Revolutionen vertreten wir, wie schon dargelegt wurde, einen völlig entgegengesetzten Standpunkt. Die Ansicht, dass die Gemeinschaft der ‹zivilisierten› Nationen eine neue Ordnung aufstellen wird, in der die militärische Entscheidung keinen Platz haben wird, halten wir für sehr fragwürdig. Wir heben hervor, dass gerade in den Nationen und Regionen, die einen imperialistischen Charakter annehmen, die Revolutionen und die militärischen Entscheidungen ans Tageslicht treten werden. Früher oder später werden sich die immer mehr konzentrierten Kräfte des Geldes mit den Mehrheiten konfrontieren. In dieser Situation werden Bank und Armee gegensätzliche Begriffe sein. Hier haben wir also die Gegenpole der Interpretation der historischen Prozesse vor uns. Allein die schon nahe Zukunft wird die korrekte Wahrnehmung der Ereignisse offensichtlich machen, die für einige - wie bereits in den letzten Jahren - ‹unglaublich› erscheinen werden. Was wird man wohl von dieser Sichtweise aus sagen, wenn die Ereignisse diesen Lauf nehmen? Wahrscheinlich, dass die Menschheit einen Schritt zurück in die Vergangenheit gemacht hat oder, vulgärer ausgedrückt, dass ‹die Welt aus den Fugen geraten ist›. Wir glauben, dass Phänomene wie der wachsende Irrationalismus, das Auftauchen einer starken Religiosität und andere nicht in der Vergangenheit angesiedelt sind. Sie entsprechen vielmehr einer neuen Etappe, der wir mit dem ganzen intellektuellen Mut und menschlichen Engagement, dessen wir fähig sind, die Stirn bieten müssen. Es wird gar nichts helfen, darauf zu beharren, dass eben in der heutigen Welt die beste Entwicklung der Gesellschaft stattfindet. Wichtiger wird es sein, zu verstehen, dass die Situation, in der wir leben, geradewegs auf den Kollaps eines ganzen Systems zusteuert, welches einige als zwar fehlerhaft, aber noch ‹vervollkommnungsfähig› betrachten. Dieses aktuelle ‹vervollkommnungsfähige› System existiert nicht. Im Gegenteil, in ihm gipfelt die Unmenschlichkeit all der Faktoren, die sich im Laufe von vielen Jahren angesammelt haben. Wenn jemand diese Behauptungen als haltlos beurteilt, so hat er jedes Recht dazu - vorausgesetzt, er legt seinerseits eine zusammenhängende Position dar. Und wer denkt, unsere Haltung sei pessimistisch, dem gegenüber bekräftigen wir, dass die Richtung in eine menschlichere Welt diesen mechanischen, negativen Prozess überwiegen wird. Diese wird von der Revolution angetrieben, die die grossen Menschengruppen in Gang setzen werden, die augenblicklich ihres eigenen Schicksals beraubt werden.

Empfangt mit diesem Brief einen herzlichen Gruss


Silo, 10.8.93

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